Kritik zu Eine Million Sandkörnchen
Im Mittelpunkt des Dokumentarfilms von Andrea Deaglio steht die italienische Psychoanalytikerin Eva Pattis Zoja, die einen aus den 1920er Jahren stammenden therapeutischen Ansatz weiterentwickelt hat
Ein ukrainischer Junge vergräbt Panzer und Soldaten in einem Sandkasten. Ein jesidisches Mädchen stellt Situationen der Flucht nach. Ein chinesischer Waisenjunge zeigt anhand von Spielfiguren das Chaos, das ein Erdbeben angerichtet hat, später arrangiert er Blumen im Sand, die das Grab seiner Eltern zieren sollen . . . Kinder, die aus unterschiedlichen Gründen mit schweren Traumata zu kämpfen haben.
»Trauma«, so Eva Pattis Zoja, »beeinträchtigt die Fähigkeit zu erzählen.« Die von ihr in Anlehnung an den Psychoanalytiker Carl Gustav Jung und die britische Ärztin Margarete Lowenfeld entwickelte »Expressive Sandarbeit« ist eine Methode, traumatische Erfahrungen zu verarbeiten. Dabei wird mit Hilfe verschiedener Gegenstände ein inneres Erleben intuitiv dargestellt. Die Methode wende sich »an die selbstheilenden Kräfte im Kind . . . und verzichtet bewusst auf eine Verbalisierung.« Ein chinesischer Junge, so Pattis Zoja, habe sich nach acht wöchentlichen Sitzungen wieder »völlig gefangen«. Woran sich diese Diagnose konkret festmachte, bleibt ebenso offen wie der Kontext der übrigen Sandkastenszenen.
Parallel zu diesen Fallbeispielen montiert der Filmemacher Andrea Deaglio Momente aus der Lebensgeschichte seiner Protagonistin, vor allem aus dem Leben von ihrer Mutter und deren Verlobten Hermann. Schwarz-Weiß-Aufnahmen zeigen die beiden in glücklichen Momenten vor der Kulisse der Dolomiten, Bilder vom Russlandfeldzug deuten das weitere Schicksal Hermanns an. Ausführlich zitiert Eva Pattis Zoja aus dem Briefverkehr der beiden, den die Tochter nach dem Tod der Mutter gefunden hatte. Letzte verzweifelte Briefe der Mutter kommen als unzustellbar zurück. Ein Leben lang hätten sie und ihre Geschwister ein Gefühl von »Abwesenheit« gespürt, obwohl sie von der Existenz des vermissten Verlobten erst aus diesen Briefen erfahren hätten. Die seelischen Traumata, so ihre Erklärung, vererbten sich »von Generation zu Generation« weiter.
Die Querverbindungen zwischen den Erlebnissen der Kinder und dem vererbten Trauma werden dabei nicht explizit aufgezeigt. Vielmehr legt der Film eine gewisse thematische Unentschlossenheit an den Tag, wenn er der Geschichte der Protagonistin zunehmend größere Aufmerksamkeit widmet. Um deren Gefühlswirren zu veranschaulichen, lässt der Filmemacher wiederholt Bilderkaskaden auf sein Publikum niedergehen, in denen die Aufnahmen aus dem Film im Zeitraffer geschreddert werden, unterlegt mit dramatischen Synthesizerklängen.
Die Praxis der »Expressiven Sandarbeit« tritt dabei in den Hintergrund, obwohl sich viele Fragen aufdrängen, etwa: Welche Figuren und Gegenstände werden für die jeweils Betroffenen für die Sandkastenarrangements angeboten und welche Vorgaben werden damit gemacht? Wie eindeutig oder wie interpretierbar sind die dargestellten Szenen? Ist vermeintlicher Erfolg wie bei dem chinesischen Jungen nicht auch nur eine Momentaufnahme? Und, nicht zuletzt, wie steht es um die wissenschaftliche Validierbarkeit dieser Therapiemethode?
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