Kritik zu Blue Valentine

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Als Werbe- und Dokumentarfilmer ist Derek Cianfrance schon lange in der Szene. »Blue Valentine« ist erst sein zweiter Spielfilm. Und eine Überraschung – eine Beziehungsgeschichte, klug gefilmt, wunderbar besetzt und sehr modern

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Während Sie das hier lesen, genau jetzt, werden überall auf der Welt, in Peru, China oder Kanada, zwischen zwei Menschen diese Blicke gewechselt, die sagen: Das ist es. Für immer! Und in eben diesem Moment knallen in Bombay, Sydney und Mülheim-Kärlich die Türen: Das war's! Ein Mann und eine Frau verlieben sich und gehen wieder auseinander – es gibt nichts Alltäglicheres. Aber »Blue Valentine« erzählt davon mit einer Konzentration, als ob es sich um etwas ganz Unerhörtes handelte, etwas von der Dimension der Mondlandung oder der Errichtung der zweiten Front. Und dazu braucht es keine Geigen, nur zwei fantastische Schauspieler und zwei verschiedene Filmformate.

Das eine zwingt den Zuschauer in eine schwindelerregende Nähe zu dem Paar, um das sich alles dreht. Irritierende Close-ups, aufgenommen aus der Distanz von einer digitalen Kamera mit Teleobjektiv, sperren uns in den Ehekäfig von Cindy und Dean. Die beiden, ganz normale Leute, untere Mittelschicht, sie Hebamme, er Maler – nicht wie in »Künstler«, sondern wie in »Anstreicher« –, führen kein schlechtes Leben. Sie haben eine süße Tochter, Haus, Hund, stabiles Einkommen. Doch die Beziehung läuft aus dem Ruder. Dean lässt sich hängen, er könnte öfter duschen, weniger rauchen, das Leben ernster nehmen. Jedenfalls findet Cindy vieles, was ihr früher an ihm charmant erschien, inzwischen fahrlässig – und unattraktiv.

Früher, das ist nicht so lange her. In körnigen Super-16-Aufnahmen, die etwas Ungeformtes haben – als könnte das Paar sich noch selbst entwerfen – rekapituliert der Film, wie Cindy und Dean einander kennengelernt haben. Er, ein sensibler Chaot, hat als Möbelpacker den Umzug eines alten Mannes ins Heim organisiert, sie besucht dort ihre Großmutter. Bei Dean schlägt der Blitz sofort ein, und er macht sich daran, die zurückhaltende Cindy zu erobern – in einer Serie mitreißender Vignetten. Aber sie ist schwanger, von einem Ex, der sein Sperma nicht halten kann, und obwohl Dean das Kind akzeptiert, könnte das der Punkt des Umschlags sein. Cindy gibt ihr Medizinstudium dran, Dean seinen Traum von einer Musikerkarriere; die beiden heiraten, das Unglück bricht aus.

Im Kino sind Liebesbeziehungen natürlich immer so bedeutend wie die Mondlandung, sie sind zugleich einzigartig und universell »It's still the same old story, a fight for love and glory, a case of do or die«, heißt es in »Casablanca«, und noch der Witz am Ende von »Annie Hall« – Beziehungen sind so irre wie der Typ, der sich für ein Huhn hält, aber »die meisten von uns brauchen die Eier« – erzählt von der allgemeinen Unentrinnbarkeit des privaten Bedürfnisses. Das Wunder von »Blue Valentine« besteht darin, wie der Regisseur und Autor Derek Cianfrance diese Tradition – der Film enthält praktisch alle Standardmotive klassischer Romanzen, bis hin zu »unserem Song« – erdet und in der zeitgenössischen Wirklichkeit verankert.

Michelle Williams und Ryan Gosling wirken in den Hauptrollen vollkommen natürlich, da ist keine Manier im Spiel. Vielmehr scheinen die beiden jeden Satz, jede Regung erst im gegebenen Moment zu erfinden: als ob sie das trashige Sexhotel, in dem sie sich für ihren Ausgeh-Abend eingebucht haben, zum ersten Mal betreten würden, als ob tatsächlich ein Glas Billig-Gin, ein hässliches Wort das andere gäbe, bis das Paar auf dem Kachelboden des kalt ausgeleuchteten Badezimmers landet, wo das Knistern, das es mal gegeben hat, von gequältem Stöhnen abgelöst wird – in einer der beklemmendsten bad sex-Szenen der Filmgeschichte.

Doch so spontan das anmutet und so sehr die Kamera den Raum um die Gesichter, die Körper der Hauptdarsteller verengt – es läuft da noch ein anderer Film mit. Die beiläufige Zeichnung der Milieus, von Cindys früherer Beziehung und der zu ihrem Chef im Krankenhaus, die charakteristische Verteilung der Rollen – sie ist die Vertreterin des Realitätsprinzips in der Familie, er nie erwachsen geworden –, die Art, wie die beiden argumentieren, und sogar die Details der Ausstattung machen klar: Diese Liebe folgt einem Muster, ihr Scheitern hat eine gesellschaftliche und sexualpolitische Logik. Die amerikanische Scheidungsstatistik gibt Paaren wie Cindy und Dean, die früh heiraten und bei denen die Frau eine schwierige sexuelle Sozialisation hinter sich hat, mäßige Chancen: Fast die Hälfte dieser Ehen übersteht keine zehn Jahre. Man will das eigentlich nicht wissen. Aber aus dem Alter, in dem man sich solche Rechnungen ersparen könnte, ist der Liebesfilm heraus – das weiß »Blue Valentine« ganz genau. So gibt es am Ende dieser Romanze fürs neue Jahrtausend auch nicht den Trost »we'll always have Paris«. Wir wissen nur, dass wir immer noch die Eier brauchen.

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