Kritik zu Bal – Honig

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Der Vater, der Sohn und der heilige Honig: Der diesjährige Berlinalegewinner von Semih Kaplanoğlu aus der Türkei erzählt eine Dreiecksgeschichte der besonderen Art

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In der Schule sind nicht immer die Talente gefragt, die einem Kind gegeben sind. Vorlesen ist nicht die Stärke von Yusuf. Dafür hat er ein Ohr für Klänge und eine gute Beobachtungsgabe. Das Gedicht »Der Löwe und die Maus« hat er seiner Mitschülerin förmlich von den Lippen abgeschaut und abgehört. Als er es dann selbst vortragen will, bittet der Lehrer ihn, eine Seite weiterzublättern und das nächste Gedicht vorzulesen. Über die er­ste Zeile kommt Yusuf nicht hinaus, vor allem das Wort »Schildkröte« ist ein Abgrund, über den seine Zunge und sein Gaumen nicht hinwegkommen.

Der einzige Mensch, bei dem Yusuf nicht stottert, ist sein Vater Yakup. Mit ihm unterhält sich Yusuf in einem Flüstern, am Morgen, wenn er ihm seine Träume erzählt, in der Werkstatt, wo Yakup sein Imkerhandwerkszeug instandhält, oder auf einem ihrer Ausflü- ge in die Wälder, in deren Wipfeln der Vater seine Bienenstöcke aufgestellt hat. Die Mutter ist von dieser Beziehung weitgehend ausgeschlossen, beim gemeinsamen Mahl schaut sie wie eine Fremde auf die beiden, die ebenso mit geflüsterten Worten wie mit alltäglichen Verrichtungen und Objekten, einem Apfel, einem Glas Milch, einem Messer miteinander zu sprechen scheinen.

Semih Kaplanoğlus Bal – Honig, auf der diesjährigen Berlinale mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet, kann man sich als einen geflüsterten Film vorstellen. Kunstvoll hält er die Balance zwischen Schweigen und Sprechen, zwischen Zeigen und Verbergen, zwischen dem Enthüllen und dem Bewahren eines Geheimnisses. Geheimnisvoll ist schon die erste Szene des Films. Ein Mann, von dem wir noch nicht wissen, dass es Yakup ist, klettert tief im Wald mit Hilfe eines Seiles den nackten Stamm eines sehr hohen Baumes hinauf. Der Ast, an dem das Seil befestigt ist, bricht, der Mann fällt hinab und bleibt etwa 20 Meter über dem Boden hängen. In die gespannte Stille hinein ist plötzlich das Summen einer Biene zu hören. Der Anflug eines Lächelns umspielt die Züge des Mannes.

Später wird man begreifen, an welche Stelle der Handlung diese Szene passt, aber das Geheimnis, das diese gesamte Erzählstruktur von Bal umgibt, wird bis zum Ende nicht aufgelöst. Fokus dieser Erzählung ist von Anfang bis Ende Yusufs kindliches Empfinden, das nicht streng zwischen Traum und Wachen, zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, zwischen dem Inneren und Äußeren unterscheidet. Vor allem mit dem zweiten Drittel des Films, wenn Yakup mit seinem Esel und seinem Falken aufbricht, um sich in einer entlegenen Gebirgsregion auf die Suche nach überlebenden Bienenvölkern zu machen, gleitet der Film in einen Modus des Wartens, Fürchtens und Sehnens, in dem sich Mutter und Sohn nicht wirklich näherkommen.

Den Kontrapunkt zur Stille in Yusufs Heim, das manchmal in etwas allzu schön arrangierten Stillleben abfotografiert ist, bilden die Ansichten der Natur. Der dichte Wald mit seinem ständig sich wandelnden Licht, mit seinen vielfältigen Geräuschen und im Himmel sich verlierenden Bäumen, ist nicht nur der Hintergrund für die Geschichte, er ist inszeniert als lebendiges, geheimnisvolles Wesen, das Geborgenheit geben oder den Tod bringen kann. Der Wald bildet das äußere Gegenüber von Yusufs konfus-komplexem Innenleben, über das sein ernst in die Welt blickendes Gesicht nur wenig Aufschluss gibt. Dass das Flüstern von Bal funktioniert, dass man trotz allen Raunens gerade noch genug Warten, Fürchten Sehnen: Bora Altas spielt Yusuf, der seinen Vater vermisst versteht, um der Schönheit des Films zu verfallen, hat auch viel damit zu tun, dass das Gesicht von Bora Altas, den Kaplanoğlu nach monatelanger Suche auf der Straße eines türkischen Gebirgsdorfes entdeckte, bei allem kindlichen Liebreiz etwas Abweisendes behält, das auch die Dinge und Menschen, die er anblickt, ein wenig fremd werden lässt.

Bal hält sich glücklicherweise an den Rat, den Yakup seinem Sohn am Anfang des Films gibt: Flüstere deine Träume oder erzähle sie lieber überhaupt niemandem. Später wird Yusuf abrupt das Haus verlassen, als ihm seine Mutter einen Traum schildert, in dem Vater, Mutter, Sohn und Blumen eine Rolle spielen. Solche Erzählungen überlässt man lieber den Langweilern und Psychologen. Bal ist ein Film, der seine Geheimnisse zu flüstern und zu verschweigen weiß.

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