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Die Kritiken zu Christopher Nolans zehntem Film „Dunkirk“ sind überwiegend positiv, die wenigen negativen Äußerungen gehen dabei fast unter. (1) Dennoch sind die Vorwürfe der mangelnden Figurenzeichnung, klinischer Bilder und einer fehlenden Haltung interessant, sind sie doch paradigmatisch, für eine kritische Haltung bestimmter Zuschauer, die sich – so scheint es – mit einer sehr genauen Erwartung ins Kino setzen. Kommt dieser der Film nicht nach, wird ein Mangel konstatiert, den es u.U. gar nicht gibt. Dies kann natürlich vermieden werden, wenn man dem Werk unvoreingenommen gegenübersteht und ein eigenes Recht einräumt. Im vorliegenden Fall ist dies gar nicht so schwer.

Dunkirk ist ohne Zweifel ein gewaltiger Film: Das Amalgam aus Bildern, Sound(Effekten) und Musik kann derart überwältigen, dass es einen buchstäblich kaum auf dem Sitz hält. Hier könnte sich der ein oder andere bestätigt sehen, dass der Film ein reines Spektakel ist, der nur der Logik des Blockbusterkinos folgt. Aber der Film selbst gibt einen unübersehbaren Hinweis zu Beginn, dass seine avancierte Erzählstruktur prominentes Stilmerkmal ist. Man könnte wenigstens einen Gedanken daran verschwenden, ihn beim Wort zu nehmen, und diese Form näher zu untersuchen. Oder?

Die Geschichte der Evakuierung von 300.000 britischen Soldaten aus der französischen Küstenstadt Dünkirchen durch 700 größtenteils private Boote über den Ärmelkanal, ist im historischen Bewusstsein der Briten tief verankert. Dunkirk ist Christopher Nolans erster historischer Film, ihm ist die Geschichte seit Kindertagen bekannt. Die erste Idee für dieses Projekt ist ihm vor rund 20 Jahren bei einer Segeltour über den Ärmelkanal gekommen.
Nolan hatte kein Interesse an den üblichen (Erzähl)Konventionen, denen das Genre des Kriegsfilms folgt, er wollte keine Generäle mit Zeigestöcken vor Landkarten zeigen, keine Heldengeschichten einzelner erzählen, auf die Daheimgebliebene warten: „Dunkirk is not a war film. It's a survival story.“ Nolan spricht über seinen Film als ein „(…) intimate epic. To immerse the audience in aggressively human scale storytelling, visually.“ (2) Der Verzicht auf die Entwicklung von Hintergrundgeschichten der Figuren, die die Motivation einzelner erklären, ist daher kein Mangel, sondern Programm. Das Ziel war der Versuch, die Zuschauer fühlen zu lassen, sie eintauchen zu lassen in eine Erzählwelt, in der es nur ein Ziel gibt: Überleben. „I wanted the audience to feel like they are there. (…) I settled on subjective storytelling shifting between very different points of view, (…) but each told in a disciplined way. You're there on the beach with the soldiers, you're on a civilian boat coming across to help, or you're in the cockpit of the Spitfire dogfighting with the enemy up above.“ (3)

Diese drei Erzählperspektiven bilden die avancierteste narrative Struktur Nolans seit seinem zweiten Film „Memento“, unterschiedliche Erzählstränge mit unterschiedlicher Dauer werden parallel montiert: Die Geschichte der Soldaten, die auf ihre Rettung an der französischen Küste warten, hat eine erzählte Zeit von einer Woche, die Überfahrt eines der zur Rettung eilenden privaten Boote über den Kanal dauert einen Tag, und die erzählte Zeit aus der Sicht eines Spitfire-Piloten, der die Aktion schützend begleitet, ist eine Stunde.
Die einzelnen Plots selber sind nicht komplex, ihre gemeinsame Wirkung hingegen schon. In ihrer Darstellung in der Montage wird die gängige Erwartungshaltung in der Rezeption ad absurdum geführt: Es werden keine parallel fortschreitenden Handlungsstränge in einer verbindlichen Zeitlinie erzählt, die sich über die klassische dramatische Dreiaktstruktur entwickeln. Jeder Schnitt zu einer der drei Erzählperspektiven ist immer wieder ein Bruch und erfordert eine erneute Orientierung seitens der Zuschauer quasi „wann“ man sich befindet. Dieser Effekt verweist auf die Zeit als bestimmende Kraft der Erzählung, die Protagonisten folgen dieser Bewegung nur: “It is not about backstory, it's about being in the moment.“ (4)
Diese permanent aufeinanderfolgenden Brüche erzeugen im Prozess der Rezeption etwas, dass nicht expliziert thematisiert wird, dass nicht expliziert thematisiert werden kann, da ein intellektueller Zugang nur begrenzt möglich ist: Nolan kann daher zu Beginn des Films darauf hinweisen, dass drei unterschiedliche lange zeitliche Verläufe erzählt werden, er nimmt damit nichts vorweg. Die Wahrnehmung und die Erfahrung des sich wiederholenden Bruchs realisiert der Zuschauer emotional: Er ist gewissermaßen in diesen Brüchen festgehalten, in der die sonstige Bewegung und Richtung der erzählten Zeit zu einem „nach vorn“, zu einem Ziel, keine Gültigkeit hat.
Dieser Effekt, der sich auf der Ebene des Fühlens realisiert, hat zum Ergebnis, dass der Zuschauer in dieser Spannung über die Dauer des Films buchstäblich „festhängt“. Dieses Gefühl ist nicht Agent einer Botschaft, es überträgt so etwas wie atemlose Verlorenheit: “I interwove the three timelines in such a way that there's a continual feeling of intensity. Increasing intensity. (…) The screenplay had been written according to musical principals. There's an audio illusion, if you will, in music called a ‚Shepard tone‘. It's an illusion where there's a continuing ascension of tone. It's a corkscrew effect. It's always going up and up and up but it never goes outside of its range. And I wrote the script according to that principle.“ (5)(6)
Dies beschreibt im Ergebnis genau das geschilderten Gefühl des „Festhängens“, hier mit Verweis auf die Ebene des Auditiven. Die Formelhaftigkeit und Präzision der Inszenierung genügt nicht sich selbst, sondern ist unbedingte Voraussetzung für dieses Ergebnis, dem man schwer Emotionslosigkeit oder Kälte vorwerfen kann.
Hans Zimmer, der eng mit Christopher Nolan bei der Erstellung des Soundtracks zusammenarbeitete, hat diesen Shepard Tone große Teile des Films unterlegt. Er steht im direkten Gegensatz zu dem Geräusch einer tickenden Uhr, das die Eröffnung des Films begleitet, und welches in Kombination mit dem Soundtrack im Verlauf des Films immer wieder auftaucht. Auch hier findet sich dieselbe paradoxe Konstruktion: Die sonst eindeutige Erfahrung der Gerichtetheit einer Bewegung - hier wieder die Zeit symbolisiert durch das Ticken – wird durch eine Kontradiktion - den Shepard Tone - aufgehoben. Noch einmal: „I wanted the audience to feel like they are there.“ So wie die britischen Soldaten an der Küste festsitzen, sitzt der Zuschauer fest in dem Spannungsverhältnis gegenläufiger audiovisueller Bewegungen.

Folgerichtig spricht Nolan auch von Suspense: „For me it was all about suspense. Suspense is a primarily visual language.“ (7) Dunkirk wurde zum überwiegenden Teil mit hochauflösenden Kameras auf 70mm gedreht, dem Kameramann Hoyte van Hoytema gelingen damit Aufnahmen mit dem Ergebnis der Illusion einer großen Nähe zum Geschehen. Der erwähnte Soundtrack gleitet ins Geräuschhafte und wieder zurück, er „schmiegt“ sich an - soweit, dass beispielsweise der Rhythmus von Schüssen durch die Musik aufgenommen wird. Es fällt schwer, sich dieser Symbiose von Musik und Bildern zu entziehen. Lässt man es zu, erfasst einen eine emotionale Ergriffenheit, die durch die Identifikation mit bestimmten Figuren nicht oder nur mit einem deutlich anderem Ergebnis zu erzielen gewesen wäre. (8)
Der in diesem Zusammenhang häufig hervorgebrachte Vorwurf an Christopher Nolan, seine Filme seien kalt und emotionslos, beruht auf einem Missverständnis oder eben vielleicht auf enttäuschten Erwartungen seitens der Zuschauer: Nolan gibt keine emotionalen Handreichungen in Dunkirk, seine Figuren bieten keine Projektionsflächen. Er selbst bezeichnet seine Filme als Rorschach-Tests. Es kann kaum einen größeren Vertrauensbeweis an die Zuschauer geben, keine größere Freiheit. Trifft diese Freiheit im Urteil auf andere Filme Nolans zu, so erst Recht bei Dunkirk, dessen Geschichte wie kaum eine andere im britischen Bewusstsein verankert ist, mit fast mythischen Ausmaßen, wie Nolan selbst sagt, „like a fairy tale“: „The way the story of Dunkirk turns out is inherently so emotional, the last thing it needed was sentimentality.“ (9)

(1) David Cox: Bloodless, boring and empty: Christopher Nolan’s Dunkirk left me cold, in: The Guardian, 2017, http://www.theguardian.com/film/filmblog/2017/jul/26/bloodless-boring-empty-christopher-nolan-dunkirk-left-me-cold [23.08.2017].
(2) Christopher Nolan explains the biggest challenges in making his latest movie „Dunkirk“ into an „intimate epic“, in: Business Insider, http://www.businessinsider.in/Christopher-Nolan-explains-the-biggest-challenges-in-making-his-latest-movie-Dunkirk-into-an-intimate-epic/articleshow/59546064.cms [23.08.2017].
(3) Ebd.
(4) Popcorn with Peter Travers: Inside the making of „Dunkirk“ with director Christopher Nolan, https://www.youtube.com/watch?v=3xHkBRtVNE0 [23.08.2017].
(5) Eliza Berman: Why „Dunkirk“ Is the Greatest Untold Story in Modern Cinema, in: Time, http://time.com/4864049/dunkirk-christopher-nolan-interview/ [23.08.2017].
(6) Vox: The sound illusion that makes Dunkirk so intense, https://www.youtube.com/watch?v=LVWTQcZbLgY&app=desktop [23.08.2017].
(7) Popcorn with Peter Travers [Anm. 4].
(8) Zur Theorie des Zuschauergefühls, dessen Darlegung den Rahmen hier gesprengt hätte: Hermann Kappelhoff, Jan-Hendrik Bakels: Das Zuschauergefühl. Möglichkeiten qualitativer Medienanalyse., in: Zeitschrift für Medienwissenschaft, 5, 2011, S. 78–95. Zur Erzeugung von Suspense auf dieser Grundlage vgl. Hauke Lehmann: Affektpoetiken des New Hollywood: Suspense, Paranoia und Melancholie, 2017., der den Mechanismus u.a. anhand der Filme Hitchcocks darlegt. Nolan ist ausgewiesener Hitchcock-Kenner: „Hitchcock really knows how to do so well the visual signifiers of suspense and I tried to draw from for this film.“
(9) Popcorn with Peter Travers [Anm. 4].

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