Wilhelm Roth: Ein Leben für die Kultur

Journalist, 15.2.1937 – 23.2.2023

Als das erste Heft von epd Film erschien, im Januar 1984, da schien das zunächst ein Projekt auf Zeit zu sein. »Auf Liebe und Tod« hieß nicht unpassend der erste Film, den die Redaktion mit Wilhelm Roth und Bettina Thienhaus auf den Titel nahm – das letzte Werk von François Truffaut, das allerdings im Kritikenteil des Heftes ziemlich kurz und unsanft ad acta gelegt wurde. Das Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik hatte zwei bestehende evangelische Publikationen, »epd Kirche und Film« und den von der bayrischen Landeskirche herausgegebenen »Evangelischen Film-Beobachter« unter einem neuen Label zusammengeführt. Wilhelm Roth war seit 1981, seit der Pensionierung von Dietmar Schmidt, verantwortlicher Redakteur von »epd Kirche und Film«, einem Dienst, wie das damals hieß, der sich vor allem um Filmpolitik kümmerte, aber seit dem »Oberhausener Manifest« eindeutig auf Seiten des neuen deutschen Autorenfilms war. Und Filmpolitik spielt auch in den ersten Heften von epd Film eine durchaus wichtige Rolle: das FFG und auch das reaktionäre Agieren des CSU-Innenministers Zimmermann.

Projekt auf Zeit. Als ich zur Redaktion stieß, im Sommer 1987, da galt noch die Devise: Wer auf ein Festival fährt, sollte ein paar Probehefte mitnehmen, um Buchhandlungen und Kinos als Kommissionäre anzuwerben. Wofür sich Willi selbst nie zu schade war. Pro Tag ein neuer Abonnent, das war das Ziel. Und irgendwann galt dann das Projekt auch als gesichert.

Wilhelm Roth war ein Vollblutjournalist, obwohl er keine spezielle Ausbildung hatte, er war ein Quereinsteiger. Auf der roten IBM-Kugelkopf-Schreibmaschine in der Redaktion entstanden kurze wie lange Texte, und von einer Schreibblockade hatte er nie etwas gehört. Von Standesdünkel auch nicht: seine Texte hat er immer zur Diskussion gestellt, war offen für Kritik und Einwände. Er hat sich auch nicht für einen gehalten, der durch seine Texte den Film auf eine neue künstlerische Stufe hebt, wie das später viele Autorinnen und Autoren glaubten. Die Literarizität der Filmkritik war ihm beim eigenen Schreiben fremd – auch wenn er immer ganz unterschiedliche Schreibweisen im Heft geschätzt und gefördert hat.

Bevor er sich in Frankfurt niederließ, war das Leben des gebürtigen Regensburgers Roth (der sein Konterfei stolz als »Frankenschädel« bezeichnete) durchaus unstet. Er studierte Germanistik und Geschichte, wollte über den Dokumentarfilm als historische Quelle promovieren, fing aber sehr früh an, Texte für die »Süddeutsche Zeitung« und den »Kölner Stadt-Anzeiger«  zu schreiben. Von 1965 bis 1967 arbeitete er in der Filmredaktion des WDR (mit Reinold E. Thiel). Einige Beiträge von ihm für das Dritte Programm haben sich erhalten, etwa ein Bericht von den Filmfestspielen von Venedig und einer von den neu gegründeten Hofer Filmtagen, kundige, vorurteilsfreie Sendungen. Bei der legendären Zeitschrift »Filmkritik« war er zuerst Assistent von Enno Patalas, später dann, als Patalas zum Filmmuseum nach München ging, alleiniger »Redaktionssekretär« – denn die Autoren der Zeitschrift hatten sich nun kollektiv organisiert. Von 1973 bis 1979 war er bei den Freunden der deutschen Kinemathek, mitverantwortlich für das Programm des »Arsenal« und der Berlinale-Sektion »Forum«. 

Man kann Roths filmische Agenda nicht anders als vielfältig und breit aufgestellt bezeichnen. Er kannte sich aus in Experimental- und Kurzfilmen, in der Filmgeschichte. Und als man in den achtziger Jahren etwa die B-Western von Joseph H. Lewis entdeckte, da war er mit dabei. Im Kino – einen Fernseher besaß Roth, zumindest in seiner Frankfurter Zeit, nur sporadisch. Aber sicher, Wilhelm Roth hatte auch seine Lieblingsthemen. Etwa den Dokumentarfilm: 1982 erschien sein Standardwerk »Der Dokumentarfilm seit 1960«. Fotografie und Film war ein weiterer Schwerpunkt von Roth, der auch Fotobücher sammelte. Ihn, der immer wieder zum Dokumentarfilmfestival nach Leipzig fuhr, interessierte auch die Filmszene der DDR; er war etwa mit dem Wissenschaftler Wolfgang Gersch und dem Regisseur Jürgen Böttcher befreundet. Und Roth hat fast manisch Krimis gelesen (zusammen mit Bettina war er in der Jury des Deutschen Krimipreises) und über Krimi und Film geschrieben, etwa über Leonardo Sciascia.

Die Journalisten-Generation von Wilhelm Roth ist quasi mit dem neuen deutschen Autorenfilm großgeworden, hat ihn verteidigt und gefördert. Zeitlebens etwa war Roth ein Bewunderer und Parteigänger von Herbert Achternbusch – so krude manche seiner Filme auch sein mochten. Aber Roth hatte auch immer Lust auf Neues, mochte es, so manches Verdikt in Frage zu stellen. Und genauer hinzusehen. Als das Deutsche Filmmuseum in Frankfurt 1989 die bis dato größte Retrospektive zum Film des Adenauer-Kinos zeigte, saß Wilhelm Roth im Kino. Das war durchaus nicht selbstverständlich bei den Kollegen seiner Generation, die den Film der fünfziger Jahre mit spitzen Fingern anfassten. 45 Filme hat er damals gesehen, schrieb er in seinem Text in epd Film, von »Der Verlorene« über »Die Goldene Pest« bis hin zu »Zwei unter Millionen«, und sein Fazit lautete: »Es brodelte unter der Oberfläche«. 

2002 ging Wilhelm Roth in den Ruhestand. Aber schon davor hat er sich journalistisch, wieder einmal, neu aufgestellt. Er hat sein immer schon bestehendes Interesse für Theater und Oper neu aktiviert. Wilhelm Roth war ein Mensch der Kultur, wie man ihn selten so ausgeprägt erlebt hatte. Zu den wenigen Abstechern ins »Triviale« gehörte, dass er über den Tabellenstand des SSV Jahn Regensburg immer erstaunlich gut Bescheid wusste, obwohl ihn Fußball grundsätzlich nicht interessierte. Nach seiner Pensionierung hat Roth für die »Frankfurter Rundschau« Interviews mit Theater- und Opernprominenz geführt. Aber er hat auch weiterhin für epd Film und die Nachrichtenagentur epd Texte geschrieben, bis kurz vor seinem Tod. Und er kam, bis das physisch nicht mehr ging, einmal im Monat zu uns in die Redaktion, um Endkorrektur zu lesen. Immer mittwochs, das war der Willi-Tag. Da saß er an unserem Konferenztisch, so wie die Alten in Bayern in ihrem Austragshäusl leben.

Meinung zum Thema

Kommentare

Schöner Text. Ich sehe Willi Roth lebendig vor mir.

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