Berlinale-Retro: Es geht doch

»Tausendschönchen« (1966). © Czech Film Fund / trigon-film.org

Die diesjährige Retrospektive »Young at Heart – Coming of Age at the Movies« hatte über weite Strecken den Makel, dass die Patenschaften für die Filmauswahl keinen Effekt auf die Vorführungen hatten, schlicht, weil die Gastkuratoren in vielen Fällen nicht da waren – und in den Filmansagen deren Auswahlbegründungen Schrägstrich Grußworte nicht erwähnt, geschweige denn verlesen wurden. So kann das Konzept nicht aufgehen, die Vorführungen wurden entkoppelt von der Idee und damit einfach mal den Zuschauern lieblos hingeworfen.

Dass es doch anders geht, zeigten die Vorführungen, die ich ab Freitag in der Retro besucht habe, gottseidank, sonst wäre mein Glaube an die Cinephilie hier in Berlin doch stark erschüttert gewesen. »À nos amours« von 1983, Hauptrolle: Sandrine Bonnaire noch vor Agnes Vardas »Vogelfrei«, musste noch ohne erläuternde Begleitung auskommen. Auf Hollywood aber ist Verlass, dort sind die Profis zugange, die, wenn sie nicht persönlich anwesend sein können, eine Videobotschaft schicken: M. Night Shyamalan ließ vor Bogdanovichs »The Last Picture Show« wissen, was ihn an dem Film begeistert: dass jede Szene für sich das Thema des ganzen Films enthält, nämlich Kleinstadtcharaktere zeigt, die mehr wollen, die sich Regeln und Konventionen gegenübersehen, die sie nicht wollen. Natürlich und echt und oft genug unangenehm für den Zuschauer… Martin Scorsese zeigte sich hochbegeistert von Bertoluccis »Prima della rivoluzione« aus dem Jahr 1964 – also vor den Revolutionen zum Ende der 60er hin! –, den er 21jährig auf dem New Yorker Filmfestival gesehen hat, eine überwältigende kinematographische Erfahrung für Scorsese, »a moment that marked me for life.«

Jasmila Zbanic wie auch Carla Simòn gaben sich persönlich die Ehre: Zbanic erklärte vor Véra Chytilovàs »Tausendschönchen«, wie der Film zu ihr gekommen ist: an der Filmschule als DVD aus Wien, weil in Bosnien nur Männerregisseure gelehrt wurden, eine große neue Erfahrung für sie. Und sie ging darauf ein, was den Film ausmacht: Die freimütige Abkehr von den Konventionen des Filmemachens, gedreht in der totalitären CSSR – und heute nochmal ganz anders zu sehen in einer Zeit, in der Dramaturgie und Figurenentwicklung von Algorithmen bestimmt werden, eine ganz andere Art von Totalitarismus, in dem es darum geht, was Produzenten wollen, Kinos und Sender. »Tausendschönchen« aber lässt das ganz weit hinter sich. (Der Film ist ein Paradebeispiel für den Nonsens der 1960er, den auch Zazie in der Metro, May Spils mit Werner Enke in Schwabing oder die Beatles unter Richard Lester zelebrierten: Unsinn als subversive Kraft.)

Und Carla Simòn, Jurymitglied in diesem Jahr, wurde von Rainer Rother ganz begeistert vor dem Film empfangen, weil ihr Auswahlfilm »El espíritu de la colmea« eine ganz große Entdeckung sei. Sie führte aus, wie der Film die Kraft der Kindheit mit der Kraft des Kinos verknüpft, wenn ein Mädchen so stark von James Whales »Frankenstein« beeindruckt ist, dass sich daraus für sie ein Schritt ins Erwachsenwerden ergibt. In der Tat wirkt die Szene, in der die kleine Ana am See sitzt und sich das Monster imaginiert, wie ein archaischer Initiationsritus, der ihr Totemtier offenbart.

Damit findet die Retro einen für mich doch noch versöhnlichen Abschluss: Weil mit den Perspektiven, die die Filmpaten einbringen, doch ein weiteres Nachdenken über Coming of Age-Filme möglich ist, darüber, ob und inwieweit dieser oder jener Film in dieses Genre passt, ob Freiheitswille, -erlangen und -verteidigen reicht, ob jeder Film mit jüngeren Protagonisten ein Coming of Age-Film ist, und ob es genug ist für die Genrezugehörigkeit, »young at heart« zu sein…

Meinung zum Thema

Kommentare

Ein subjektiver Einstieg. Ich genieße die Filmvorführungen auch ohne Einführung. Auch ist der erste Absatz nicht ganz zutreffend, da sich zumindest virtuelle Begründungen und Grußbotschaften auf der Website der Kinemathek/Retrospektive wiederfinden/-fanden.

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