Retrospektive: »Kennen Sie Urban?«

 »Kennen Sie Urban?« (1971). © DEFA-Stiftung / Klaus Mühlstein

Halbstarke in der DDR, Wohnungsnot, kinderreiche, verwahrloste Familien, verlorene, ziellose junge Männer. Und Aufbau, Arbeit für alle, soziale Absicherungen, engagierte, herzensgute, hilfreiche Menschen, die die verlorenen Söhne des Sozialismus wieder auf den rechten Pfad zurückbringen.

»Kennen Sie Urban?« von 1970 ist eine Entwicklungsgeschichte vom Gammler zum aufrechten DDR-Bürger. Einerseits. Andererseits ist er aber vor allem ein sehr lebendiges Gesellschaftsporträt, ein Blick in die Unterschicht, auch in das Bewusstsein, dass es überhaupt Schichten gibt; er ist eine sehr schön erzählte Liebesgeschichte. Und er ist das Charakterporträt eines Mannes, der zwischen allen Stühlen steckt und sich nicht entscheiden kann oder will, wo er seinen Hintern draufsetzen soll.

»Hoffi« wandert mit Bruder »Keule« von Baustelle zu Baustelle. Das ist ein doller Anfang: Auf der Baustelle Heidenau I suchen sie Arbeit, vor allem aber einen gewissen Urban, groß, stark, Rücken wie ein Schrank, kräftige Pranken. Es gibt auch ein zweites Heidenau, plötzlich sind die beiden in der Sächsischen Schweiz. Auch hier kein Urban, dafür fängt Keule ein Kaninchen als Haustier. Wieder in Heidenau I nehmen sie Arbeit an, lernen famose Kollegen kennen und Gila, die sich an Hoffi ranmacht. Gila ist gewohnt, von Männern zu bekommen, was sie will. Bei Hoffi blitzt sie aber, er weicht jedem Annäherungsversuch aus. Groß haben er und Keule ihre guten Vorsätze unterzeichnet, kein Alkohol, keine Faulheit, keine Frauen.

Doch Hoffi hat vor allem Manschetten, weil er 18 Monate im Bau war. Körperverletzung. Und seine Hintergrundgeschichte bekommen wir immer wieder in unvermittelten Einsprengseln aus der Vergangenheit serviert, das ist eine sehr flotte Montagetechnik, die die Handlung dynamisch unterfüttert: Wie er mit den Kumpels laute Musik gehört hat und einen alten Mann, Typ Spießer, umgehauen hat. Und immer wieder Urban, den er im Krankenhaus kennengelernt hat, den er sich offenbar zum Idol auserkoren hat. Urban, der schon überall war, in Kuba die Puppen hat tanzen lassen und in Algerien eine Pipeline gebaut hat. Urban, der eine Familie hat. Und eigentlich bei seinem Wandertrieb nicht haben dürfte: Er geht, wohin die Arbeit ihn ruft.

Urban; eine tapfere Sozialarbeiterin in Berlin; die Kollegen; nicht zuletzt die Familie: Hoffi ist aufgehoben in einem sozialen Netz, das er gar nicht wirklich anerkennen will. Mit Gila wird es ernst, sie ist schwanger, er aber will sich um Keule kümmern, den Bruder Leichtfuß, der zum Zirkus will – oder will Hoffi sich den Rücken frei und alle Optionen offen halten?

Ingrid Reschke inszenierte diesen Stoff, den Ulrich Plenzdorf adaptiert hat aus Sozialberichten über die Berliner Jugend: Und bei allem (vermutlich aufgezwungenen) DDR-System-Lob ist dies ein starker Blick auf die Menschen von 1970, die wissen, wie das Land läuft, die sich dem Land auch anpassen; und die ihre Individualität dennoch nicht an der Garderobe abgeben.

Ingrid Reschke ist kurz nach der Premiere bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Offenbar hätte sie als nächstes Projekt wieder mit Plenzdorf zusammenarbeiten sollen: Bei »Die Legende von Paul und Paula«.

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