Sie werden eine größere Sendung brauchen
David Brown hatte wohl recht, als er behauptete, jeder könne sich noch daran erinnern, wann er »Der weiße Hai« zum ersten Mal gesehen hat. Für mich trifft das auf alle Fälle zu. Ich holte ihn mit zwei Jahren Verspätung nach, als er 1977 im Sommerprogramm des alten Astoria in Bielefeld lief. Da ich daheim meine Brille hatte liegen lassen, mussten mein Schulfreund Heiko und ich uns in die erste Reihe setzen.
Über immersive Kunsterlebnisse philosophierte man damals noch nicht, aber unsere Warte kam dem schon sehr nahe. Dass »Jaws« einmal mein Lieblingsfilm von Steven Spielberg werden sollte (neben »Catch me if you can«, seiner schönsten filmischen Vatersuche), war 1977 auch noch nicht abzusehen. Aber zurück zu Brown, einem der beiden Produzenten, denn dessen Apercu geht voller verschmitzter Genugtuung weiter: "Jeder weiß, in welchem Kino das war und was er tat, als er nach Haus kam. Niemand hat sich danach ein Bad eingelassen." Sein Mitproduzent Richard Zanuck verdiente an diesem einen Film übrigens mehr, als es sein Vater Darryl in vier Jahrzehnten als Produktionschef bei Warner Brothers und 20th Century Fox getan hatte.
Der Kinostart jährt sich in diesem Juni zum 50. Mal und wir alle wissen, dass sich mit ihm das Filmgeschäft unwiderruflich veränderte. Ob Steven Soderberghs Buch über den Film wohl pünktlich zum Termin fertig wird? Ich hätte auch gern mal das Stück »The Shark is broken« gesehen, das Ian Shaw, der Sohn des Quint-Darstellers Robert, zusammen mit Joseph Nixon schrieb. Ich glaube, inzwischen gibt es sogar ein zweites über die Dreharbeiten, das unter dem Titel »Bruce« in New York lief. Bereits zum Start konnte man viel über den Dreh lesen. »The Jaws Log« des Co-Drehbuchautors Carl Gottlieb erschien unter dem sehr siebzigerjahrehaften Titel »Der Weiße-Hai Report« als Taschenbuch bei Heyne. Ich verschlang es, noch bevor ich den Film überhaupt gesehen hatte und unterwarf mich so der seinerzeit innovativen Marketingstrategie. Bis Soderberghs Monographie erscheint (und zum Jubiläum bestimmt jede Menge hochtrabender Deutungen des Phänomens in hiesigen Feuilletons erscheinen werden), muss man sich mit der Doku zufrieden geben, die vorgestern Abend auf arte lief und bis zum 1. Juni 2026 in der Mediathek vorgehalten wird (https://www.arte.tv/de/videos/118175-000-A/der-weisse-hai-kultfilm-mit-biss/).
Co-Regisseur Antoine Coursat ist ein alter Hase in diesem Metier, der jedes Jahr eine Sendung zum Populärkino abliefert (oder ablaicht, wie mein Freund Lars-Olav Beier früher gern sagte, und was in diesem Kontext sogar einigermaßen passt); sein Mitautor Olivier Bonnard hat noch nicht ganz so viel Erfahrung, aber scheint mit ebensolcher Unternehmungslust dabei zu sein. Ausgesprochenen Biss hat ihre Doku nicht; dem Originaltitel, der von einem "Monstererfolg" spricht, wird sie eher gerecht. Sie ist so, wie die meisten arte-Sendungen übers Kino daherkommen: flott, anspielungsreich, mit einer munteren Erzählstimme (in der Synchronfassung klingen französische Interpretationen ja immer noch eine Spur blumiger) und flapsig montiert. Die Entstehungsgeschichte ist aber auch wirklich spannend genug. Die Autoren haben tolles Archivmaterial aufgetrieben und illustre Talking heads versammelt, darunter Wendy, die Witwe des Autors Peter Benchley, die Schauspielerin Lorraine Gary, die Szenaristen Gottlieb und Matthew Robbins (der vielleicht am Drehbuch mitschrieb, vielleicht aber auch nicht) und den Szenenbildner Joe Alves. Den Autoren macht es einen Heidenspaß, zahlreiche Aspekte des Phänomens zu beleuchten. Sie geben sich als echte Fans zu erkennen.
Die Kritiker waren 1975 und in den nächsten Jahrzehnten durchaus gespalten. Ich erinnere mich, dass die hiesigen in ziemliche Katastrophenstimmung verfielen; schon aus anti-amerikanischem Affekt. Jenseits des Atlantiks ging man differenzierter heran. Molly Haskell fühlte sich im Kinosaal wie eine Laborratte, die mit Elektroschocks behandelt wird. Ihr Kollege Kenneth Turan hingegen glaubte, die Zukunft des Kinos gesehen zu haben. Für J. Hoberman war der Film "eine grausame Maschine, die sich beim Geruch von Blut in Bewegung setzt, alles verschlingt und keinen Schlaf braucht: Mit »Der weiße Hai« begann die Kulturindustrie, von sich selbst zu erzählen." Tatsächlich scheint mir der Hai eine griffige Metapher für die Ästhetik der Raserei zu sein, wie wir sie aus dem heutigen Blockbusterkino kennen: Der Fisch muss unablässig in Bewegung bleiben, um nicht auf den Meeresgrund zu sinken und zu sterben. So tief schürft die Doku nicht, obwohl sie ansonsten keine naheliegende Metapher scheut ("Der Drehplan geht unter."). Immerhin greift sie einige der historischen Deutungsmuster auf (Vietnam, Nixon-Administration etc.). Auch Fidel Castro wird zitiert, der ein unverhoffter Bewunderer von »Jaws« war, weil er zeigt, "wie rücksichtslos der Kapitalismus vorgeht. Er schreckt nicht mal vor Mord zurück! Die Geschäftsleute setzen lieber die Sicherheit der Bürger aufs Spiel, als die Strände zu schließen." Wendy Benchley reklamiert sein Lob für die Romanvorlage ihres Mannes, aber meines Wissens sprach der Máximo Lider ausdrücklich über den "marxsistischen Film". Der Vergleich zu Ibsens „Ein Volksfeind“ darf natürlich nicht fehlen. Murray Hamilton ist als Bürgermeister ein wirklich vortrefflicher Schurke, warum nur schalten Bonnard/ Coursat den Zeitraffer ein, als er mit Chief Brody (Roy Scheider) und dem Haiforscher Hooper (Richard Dreyfuss) streitet?
Helden hat die Doku natürlich auch, da steht Spielberg in der ersten Reihe. Sein Kollege Alexandre Aja rühmt ihn als einen Filmemacher, der jede Widrigkeit in eine Idee verwandelt. Beides, Katastrophen und brillante Einfälle, gab es zuhauf während des Drehs in Marthas Vineyard, der zwei-, dreimal so lange dauerte wie geplant. (Brown berichtete Scheider später, dass einige Crewmitglieder inzwischen Einheimische geheiratet hatten.) Es erstaunt mich immer noch, dass Universal an dem relativ unerfahrenen Regisseur in all diesem Chaos festhielten. Sehr schön finde ich, wie Bonnard/Coursat die Kühnheit und sich entwickelnde Handschrift Spielbergs herausarbeiten. Obwohl es die Probleme nur noch potenzierte, bestand er auf einem Breitwandformat, um die Verletzbarkeit seiner Figuren in der Weite des Meeres zu unterstreichen.
In seiner zweiten Hälfte, kündigen die Autoren an, würde der Film noch metaphysischer. Leider belassen sie es bei dem Versprechen. Sie glauben, darin eine Buddy-Komödie zu sehen. Das Entscheidende unterschlagen sie: Quints Monolog über den Untergang der USS Indianapolis. Es gab kaum Überlebende, die Haie fanden reiche Beute unter den ins Meer geflüchteten Soldaten, aber die Bombe für Hiroshima kam ans Ziel. Der Monolog, an dem John Milius und Robert Shaw federführend mitwirkten (es wurde ohnehin wahnsinnig viel und unglaublich klug improvisiert), ist das Herzstück des Films. Dem archaischen Kräftemessen zwischen Mensch und Natur verleiht er mit dem Verweis auf Hiroshima eine moderne, eine politische und historische Dimension. Nigel Andrews, der Autor einer Monographie über den Film, schrieb: »Der weiße Hai« ist ohne die Indianapolis-Rede ebenso wenig vorstellbar wie »Hamlet« ohne den Sein-oder-Nichtsein-Monolog. Das ist der Lackmustest für jede anständige Auseinandersetzung mit »Jaws«. Die Autoren bleiben lieber an der Oberfläche. Ich hoffe, ihre nächste Doku drehen sie auf festem Boden.
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