Schließt sich das große Tor?

Vor einigen Tagen saß ich an einem Artikel über eine spannende Retrospektive im Filmarchiv Austria. Sie rekapituliert die Rückkehr ins Kino im Wien des Frühjahrs 1945. Tatsächlich ist dies die österreichische Variante des großartigen „Befreite Leinwände“-Projektes, über das ich hier Ende Oktober/Anfang November 2023 schrieb. Einen flotten Anfang hatte ich mir bereits überlegt:

Im Hotel Esperanza, wo zahllose Migranten auf ihr Einreisevisum in die USA warten, ist auch Georges Iscovescu zum Müßiggang verdammt. Die Grenzbehörden weisen den rumänischen Gigolo immer wieder ab. Eines Nachmittags liegt er deprimiert auf seinem Bett und entdeckt eine Küchenschabe, die an der Wand zu einem Spiegel empor krabbelt. Er nimmt ein Stöckchen zur Hand, mit dem er sie vor Erreichen des Ziels fortscheucht. „Du kommst nicht rüber. Du hast doch kein Visum!“ verspottet er das Insekt.

Dieser Moment aus „Hold back the Dawn“ wäre eine der schönsten, persönlichsten Szenen über das Exil geworden, die Billy Wilder je verfasst hat. Allerdings weigerte sich Hauptdarsteller Charles Boyer, sie zu spielen: Man kann doch nicht mit einem Insekt sprechen, das einen nicht versteht! Also wurde die Szene gestrichen.

Soweit der geplante Auftakt. Mir gefiel die Doppelbödigkeit des Moments, in der sich die Situation der Emigranten Iscovescu und Wilder spiegelte. Kurz vor der Abgabe fiel mir plötzlich ein, dass meine Idee völliger Unfug ist: Man kann einen Text über eine Filmreihe doch nicht mit einer Szene beginnen, die gar nicht zu sehen ist! Zum Glück war ich einen Tag zu früh dran. Allerdings ist „Hold Back the Dawn“, der in der BRD später unter dem gelungenen Titel „Das goldene Tor“ herauskam, ein so reicher Film, dass er mir eine Alternative anbot. Iscovescus beste Option, die unfreiwillige Etappe in Mexiko hinter sich zu lassen, besteht in der Heirat mit einer Amerikanerin. Emmy Brown, die wunderbar funkelnd von Olivia de Havilland gespielt wird, scheint eine geeignete Kandidatin. Jedoch ist sie nicht nur treuherzig, sondern eine glühende, aufgeklärte Patriotin. In einem Monolog vergleicht sie Amerika mit einem See, der „klar und frisch ist und nie stagniert, solange neue Ströme hereinfließen.“ So ähnlich steht es nun im „falter“, den bestimmt niemand im Weißen Haus ließt.

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Die Amerika Gedenkbibliothek, die zu meinen Lieblingsorten in Berlin zählt, richtet in ihrer Lobby regelmäßig keine Ausstellungen zu aktuellen Themen ein. Anlässe können Jubiläen wie der 100. Geburtstag von Maria Callas sein, oft aber auch aktuelle gesellschaftspolitische Strömungen. Derzeit sind an der Ausstellungswand lauter Bücher versammelt, die gerade aus amerikanischen Bibliotheken verbannt werden. Natürlich ist „Lolita“ darunter, das gehört sich ja für ein bigottes Land. Dass im gegenwärtigen politischen Klima ein Titel wie „Die Farbe Lila“ verschwinden soll, mag man ebenfalls nachvollziehen. Das Gleiche gilt für wissenschaftliche Publikationen. Weshalb jedoch „Forrest Gump“ oder die Romane von John Green und Jodi Picoult der Säuberungsaktion zum Opfer fallen, erschließt sich auf Anhieb nicht. Auf die Idee zu dieser Solidaritätsbekundung kam die AGB bereits, bevor der US-Präsident die Leiterin der National Library in Washington, Carla Hayden, von heute auf morgen feuerte.

 

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Über die Zölle, die Trump auf Filme aus anderen Ländern erheben will, kann man nur den Kopf schütteln: noch so ein unüberlegter, populistischer und xenophober Plan, der am Ende für alle Seiten nur verheerende Folgen haben kann. So genannte „Runaway Productions“ sollen die Nationale Sicherheit bedrohen? Es ist wirklich zum Reißausnehmen. Immerhin verdanke ich der aktuellen Debatte die Erkenntnis, dass dieser Begriff schon lange vor der jüngsten Laune des Präsidenten gebräuchlich war. „Runaway“ klingt in der Tat ein wenig fahnenflüchtig, aber besaß ursprünglich nicht unbedingt negative Konnotationen. Es ergab ja einerseits durchaus ökonomischen Sinn, dass die Studios in der Nachkriegszeit ihre Produktionen nach Europa auslagerten, wo die Kosten für Darsteller und Infrastruktur niedriger waren. Ein Leitartikel in „Variety“ macht als Auslöser dieses Trends Filme wie „Quo vadis“ und „Ein Herz und eine Krone“ namhaft, die in Rom entstanden und angeblich auf starken Widerstand von Branche und Politik stießen. In der „Welt“ vom 7. 5. finden sie eine Paraphrase dieses Artikels, die zahlreiche Fehler aus dem Original übernimmt. Die Praxis war schon vor 1950 etabliert und Filmländer wie Frankreich und Italien begrüßten die amerikanischen Teams tendenziell mit offenen Armen. 1948 etwa entstand einer meiner Lieblingsfilme von Henry King, „Prince of Foxes“ (In den Klauen des Borgia) an Originalschauplätzen in Rom, Siena, Florenz und, besonders eindrucksvoll, San Gimignano. Vor ein paar Tagen sah ich mir eine Blu-ray von Robert Siodmaks Film noir „Deported“ (Abgeschoben) an, der wenige Monate später ebenfalls in der Toskana gedreht wurde. (Bei sonnigem Wetter bekomme ich chronisch Lust auf düstere Schwarzweißfilme.) Im Audiokommentar schildert David Kremer akribisch die Entstehungsgeschichte des B-Pictures von Universal, das inspiriert wurde von der Abschiebung Lucky Lucianos. 1949 war runaway production bereits eine geläufige Formel. „Deported“ ist der vorletzte amerikanische Film, den der Emigrant Siodmak realisierte, bevor er ganz nach Europa zurückkehrte. Die Landschaften und urbanen Szenerien sind fast so atemraubend wie bei Henry King, und man spürt, dass der Regisseur und sein Kameramann William Daniels sich von der Energie des Neorealismus anstecken ließen. Kremers Sicht ist nicht frei von amerikanischer Selbstzufriedenheit: Die Filminvasion war gewissermaßen Teil des Marshallplans, um das demoralisiete, in Scherben liegende Europa wieder aufzupäppeln. Ein interessanter Hinweis ist jedoch, dass runaway productions vor ihren US-Startterminen häufig zuerst in Europa oder dem englischsprachigen Ausland herausgebracht wurden. Auch damals mussten also Handelsgrenzen behutsam überwunden werden.

Auf das „einerseits“, das ich vor einigen Minuten schrieb, folgt nun endlich das „andererseits“. Ich bin mir nämlich sicher, dass die Neugier auf ferne Schauplätze nicht nur ökonomischer Logik folgte. Sie verdankte sich auch einem stärkeren Wunsch nach Authentizität. Die US-Soldaten hatten Italien und Frankreich mit eigenen Augen gesehen und wollten sich nicht mehr mit dem Anblick der archetypischen „europäischen“ Studiostraßen Hollywooods zufriedengeben. Es war Robert Parrish, der sehr oft in Übersee drehte, der mich auf diese Idee brachte. Ins legendäre „Hollywood am Tiber“ hat es ihn indes nie verschlagen, anders als seine Kollegen John Huston, Joe Mankiewicz, Robert Wise und William Wyler.

Seine Anziehungskraft hat Rom seither nur phasenweise eingebüßt. In Cinecittà, wo unlängst neue Ateliers für Großproduktionen eröffnet wurden, geben sich derzeit Hollywoodregisseure die Klinke in die Hand. Ridley Scott dreht wieder dort und Mel Gibson bereitet die Fortsetzung von „Die Passion Christi“ vor, die sich nun der Wiedergeburt widmet. Nicht nur für die Leitung von Cinecittà kommt Trumps Ankündigung zur Unzeit. Immerhin tröstlich, dass der dritte Hollywood-Botschafter des Präsidenten besser als sein Idol weiß, wie das Filmgeschäft läuft.

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