Ein tragischer Dandy

Am Morgen des 1. November 1925 erwartete die französischen Zeitungsleserinnen und -leser eine traurige Nachricht, die sich in Windeseile auch weltweit verbreitete: Der berühmte Filmkomiker Max Linder und seine junge Frau hatten Selbstmord begangen. Vor 100 Jahren war es für das Publikum noch eine ziemliche Überraschung, dass ein Spaßmacher privat ein verzweifelter, todtrauriger Mensch sein konnte. Auch in dieser Hinsicht war Linder ein Pionier.

Er war der erste Filmstar, der internationalen Ruhm errang, lange vor Asta Nielsen, Charlie Chaplin und all den anderen. Von den genauen Umständen, unter denen sich sein Tod zugetragen hatte, erfuhr das Publikum erst nach und nach. Vollends geklärt wurden sie nie. Fest stand nur, dass die Eheleute zwei Tage davor zuerst ein Beruhigungsmittel genommen hatten und sich dann Morphium spritzten, bevor sie sich die Pulsadern aufschnitten. Hélène Linder, die gerade einmal 21 Jahre alt wurde, starb unmittelbar darauf. Ihr 20 Jahre älterer Gatte überlebte sie um einige Stunden, womöglich gar Tage. Über der genauen Todeszeitpunkt herrscht Unklarheit. Mein Filmkalender nennt den 30. Oktober, aber der Folgetag ist wahrscheinlicher (die Zeitungsmeldungen sind mit dem 31. Oktober datiert), andere Quellen behaupten, er sei seinen Verletzungen in den frühen Morgenstunden des 1. November erlegen. Das Gerücht machte die Runde, das Paar habe einen Selbstmordpakt geschlossen. Bereits anderthalb Jahre zuvor waren die Zwei bewusstlos in einem Hotelzimmer aufgefunden worden. Der Verdacht, Max Linder habe seine Frau getötet oder zumindest zum Suizid gedrängt, wurde nie ganz ausgeräumt. Das Paar ließ eine Tochter zurück, Maud, die später selbst Filmemacherin wurde und von der hier noch die Rede sein wird.

Offenbar litt ihr Vater bereits seit dem Ersten Weltkrieg an schweren Depressionen. Unmittelbar nach dessen Ausbruch, als seine Karriere gerade ihren Zenith erreichte, wollte er sich zum Militärdienst melden, wurde jedoch als untauglich für den Dienst an der Front eingestuft und versah zunächst Botendienste, bevor er schließlich zur Truppenbetreuung abkommandiert wurde. Die Soldaten, die über seine Scherze und Missgeschicke lachten, hatten keine Ahnung, dass ihr Idol die Kriegszeit nur überstand, weil er Opium nahm. Auch seine Karriere sollte sich nie, obwohl sie ihn bis nach Hollywood führte, wirklich von dem Einschnitt erholen, den sie 1914 erfuhr. In den letzten Oktobertagen 1925 fand eine Laufbahn, die ganz im Zeichen des Frohsinns gestanden hatte, ihr tragisches Ende. Als Chaplin die Todesnachricht erhielt, unterbrach er die Dreharbeiten zu "Goldrausch" und schloss sein Studio für einen Tag.

Max Linder war sein Vorbild gewesen, obwohl dieser mit seiner eleganten Erscheinung eigentlich das genaue Gegenteil der Figur des heiter verwahrlosten Tramp verkörperte. Das Foto, das Charlot für seinen Lehrmeister signierte, gehörte zu den größten Schätzen, die Maud Linder von ihrem Vater blieben. Er war ein unerhört gutaussehendes, schnurrbärtiges Mannsbild von athletischem Wuchs, fast so muskulös wie sein Freund Douglas Fairbanks. Zu Beginn des letzten Jahrhunderts wurde er zum filmischen Inbegriff der Belle Époque, brillierte als galanter Bonvivant, Schürzenjäger und Erbschleicher. Mienenspiel und Gestik erzählten von gesellschaftlichem Dünkel. Sein Ruhm wäre undenkbar ohne den vornehmen Gehstock, den seidenen Zylinder, ohne die raffinierte Krawatte, den dreiteiligen Anzug und die blankpolierte Schuhe, die meist in Gamaschen gehüllt waren. Als erster Filmkomiker erkannte er, wie wichtig der Wiedererkennungswert eines Kostüms ist. Nicht nur Chaplin, auch Buster Keaton, Jacques Tati, Jerry Lewis und Pierre Étaix schauten sich das bei ihm ab. Er ebnete ihnen noch einen weiteren Weg, indem er selbst die Regie übernahm und so eine uneingeschränkte Kontrolle über Rhythmus und Timing zu haben; später experimentierte er mit Zeitlupe und pfiffigen Parallelmontagen. Sein inszenatorischer Blick war großzügig: Auch seine Partner durften einfallsreich sein, wobei seine gewitztesten Gegenspieler nicht selten der Tierwelt entstammten.

Früh hatte er erkannt, dass er ein Markenzeichen werden musste, um Erfolg auf der Leinwand zu haben. Verwechslungsgefahr bestand damals freilich noch nicht; er hatte anfangs keine nennenswerten Konkurrenten. Seine Kinofigur trug unweigerlich seinen Vornamen, der stets auch im Titel seiner komödiantischen Kurzfilme auftauchte. Als Charles Pathé ihn 1905 unter Vertrag nahm, gewann seine Popularität weltweite Ausstrahlung (kein Wunder, Pathé war bis zum Krieg der mächtigste Filmkonzern überhaupt), nun erlebte Max auch turbulente Abenteuer im Ausland, zum Beispiel als burlesker Stierkämpfer. Für den jungen Manoel de Oliveira, war Linder das Idol seiner Kindheit – Dandys verstehen einander. Bestimmt nahmen auch die Surrealisten begeistert von ihm Notiz, immerhin steckten seine Filme voller tollkühner Einfälle die den Alltag aus Angeln hoben. Da konnten sich zwei Herren zu Pferd im Salon duellieren oder Max lud eine Kuh samt Kälbchen zu Tisch. Pathé ließ ihm alle erdenklichen Freiheiten.

Seine Filme wurden mit der Zeit immer länger und aufwändiger, aus den komischen Szenen von sieben oder zehn Minuten wurden bis zum Kriegsausbruch gar Halbstünder. Sein Ehrgeiz wuchs und trotzte den Depressionen. Dann titelten die Zeitungen plötzlich "Max goes to America!". Anfängliche Misserfolge entmutigten ihn nicht, er machte seinen Stil der Charakterkomik auch in Hollywood heimisch, fügte ihm indes noch geistesgegenwärtigen Slapstick hinzu. Anfang der 1920er drehte er drei halblange Meisterwerke, die wohl den stärksten Einfluss auf das Genre hattren. Die hinreißende Doppelpantomime aus "Sieben Jahre Unglück", die das Zerbrechen eines Spiegels kaschieren soll, weist auf "Duck Soup" mit den Marx Brothers voraus. Und von den dreisten Anachronismen , mit denen er seine Parodie der "Drei Musketiere" spickte (Telefone, Motorräder, einmal probiert sein D'Artagnan auch den typischen Zylinder an), dürfte Mel Brooks eine Menge gelernt haben.

Zurück in der Heimat setzte sich Linder federführend für das Gedeihen des französischen Kinos ein, namentlich als Präsident der "Societé des auteurs de film". Da hatte er auch das Urheberrecht fest im Blick. Jedoch arbeitete er in einer Industrie, die ganz auf Gegenwart und Zukunft fixiert ist und in deren Geschäftsmodell die Geschichte (noch) keine Rolle spielte. Den Tonfilm erlebte Linder nicht mehr, aber schon davor gaben die meisten Produzenten ihre Filme der Zerstörung preis. Max' Tochter bemühte sich Jahrzehnte später hingebungsvoll um sein Erbe. Ein Großteil davon war unwiederbringlich verloren, aber was die Zeit überdauert hatte, ließ sie restaurieren. Ich habe die unermüdliche Siegelbewahrerin noch rüstig im alten Arsenal in der Schöneberger Welserstrasse erlebt. Eines der schönsten Kinos von Paris ist nach ihrem Vater benannt. Ich war oft dort und meine mich zu erinnern, dass es in "Inglorious Basterds" auftaucht.

In Frankreich und den USA gibt es ansehnliche Anthologien seines Werks. Die Blu-ray der Éditions Montparnasse ist ein Schmuckstück, übrigens zweisprachig. Linders Bewunderer René Clair spricht eine Anführung und Maud kommentiert einige Filme. Auch ihr Dokumentarfilm "L'Homme au chapeau de Soie" von 1983 ist darin enthalten, den sie seinerzeit in Berlin zeigte. Darin erzählt sie die Lebensgeschichte ihres Vaters anhand von lauter Filmszenen – das wirkt fast so, als habe Max sein Werk als eine komödiantische Autofiktion angelegt. Einmal, in dem Kurzfilm "Au secours", den er mit seiner Frau für Abel Gance schrieb, ist er gar als tragische Gestalt zu sehen. Vor seinem Freitod hatte er noch große Pläne, wollte einen aufwändigen Kostümfilm drehen, "Chevalier Barkas", bei dem René Clair als Regieassistent mitwirken sollte. Die Schauplatzsuche war abgeschlossen, angeblich hatte er sogar schon ein, zwei Szenen gedreht. Ein ungeträumter Traum. Aber es bleibt das Glück der späten Sichtbarkeit, das Max Linder seiner Tochter verdankt.

 

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