Die Stimme des Wohlgefallens
Als mir ein befreundeter Kollege vor einigen Jahren die Sendereihe „Stadt, Land, Kunst« empfahl, konnte er nicht ahnen, wie sehr er damit mein Leben umkrempeln würde. Arglos berichtete er von einem Beitrag über Bertrand Tavernier und dessen Heimatstadt Lyon. Seither ist das Magazin für mich zu einem wochentäglichen Ritual geworden,
Es läuft auf arte just zu der Zeit, in der ich üblicherweise kürzere Texte abgeschlossen habe. In der mittäglichen Pause entführt es mich auf Reisen um die ganze Welt. Das lässt sich nicht immer einrichten, aber dafür gibt es die Mediathek des Senders oder die Wiederholung am nächsten Morgen. Im französischen Original heißt das Magazin "Invitation au voyage". Diese Einladung verkörpert zunächst einmal die stets gut gelaunte Moderatorin Linda Lorin in leger farbenfrohen Kostümen und mit einladender Gestik.Obwohl die Sendung Wert auf Abwechslung legt – mindestens zwei Kontinente in vier Beiträgen -, folgt sie selbst strengen Ritualen.
Ihr Aufbau ist stets gleich. Der erste und längste Beitrag widmet sich der Beziehung eines Künstlers oder einer Künstlerin zu einem bestimmten Ort. In dieser Woche waren das zum Beispiel David Lynch' Verhältnis zu Los Angeles und die Liebe der Künstlerin Anna-Eva Bergman zu ihrer norwegischen Heimat. Daran schließt sich eine kurze Parenthese an, die einen anderen Aspekt des Themas oder Schauplatzes mit einem Augenzwinkern beleuchtet. Als zweiter längerer Beitrag läuft eine Reportage über bestimmte kulturelle Eigenheiten eines Landes oder einer Region. In der "Geschmackssache" kann man zuschauen, wie Einheimische mit sachkundigem Stolz landestypische Speisen zubereiten. Der Titel der letzten Rubrik, "Die kuriose Geschichte", spricht in der Regel für sich. Zum Schluss verkündet Lorin die Lösung eines Rätsels, das sie zu Beginn stellte.
Nicht alle Themen sind interessant. Mit der Zeit stellte ich jedoch fest, dass ich die ersten beiden Beiträge immer besonders aufmerksam verfolge. Mitunter höre ich mehr zu, als dass ich hinschaue, da mich der Wohlklang einer Stimme in den Bann zieht. In ihr schwingt unermüdliches Staunen mit; sie ist die akustische Bekräftigung der Schaulust. Sie gehört dem Sprecher Gerrit Hamann. Sein gleichsam kosmopolitisches Organ lässt ihn zur Idealbesetzung des Reiseführers werden: ein Erzähler voll neugieriger Zuversicht, der spürbare Lust empfindet an den Entdeckungen, die dem Publikum präsentiert werden sollen. Nie erweckt er den Eindruck, selbst der Verfasser der Zeilen zu sein, die er zu Gehör bringt. Aber ohne seine Stimme wären sie unvorstellbar. Dieser Interpret entpuppt sich als empfindsamer Chronist. Jedem Satz vermag er unumstößliche Selbstverständlichkeit zu verleihen.
Dabei stelle ich mir vor, dass die deutsche Übersetzung der Originalkommentare bestimmt nicht einfach war. Sie sind mitunter blumig, auch träumerisch, voll agiler Poesie, aber schüren nie den Argwohn, prätentiös zu sein. Bislang habe ich noch keinen Gemeinplatz gehört, den Hamann nicht zu veredeln wusste. Wenn es heißt, die Kochkunst sei in Japan fast heilig, glaube ich ihm aufs Wort. Wenn aus den Texten eines Sängers oder Schriftstellers ein "tiefer Glaube an die Volkskultur" spricht, hege ich daran keinen Zweifel. Mein absoluter Favorit ist nach wie vor folgender Satz: "Die Mönche stellten den Berg unter ihren Schutz." Wie Dergleichen möglich sein könnte, worin dieser Schutz konkret bestehen sollte (gegen was oder wen?) wäre selbstredend der Frage wert. Aber er spricht das so klar, dass mir die Suche nach einer Antwort überflüssig erscheint. Bei ihm ergibt alles einen Sinn.
Manchmal sind die Texte aber einfach auch unwiderstehlich. Der Beitrag über den Pariser Chansonnier Renaud beginnt beispielsweise so: "Es ist die Geschichte eines Rebellen, der gern nascht." Das Niveau des Auftakts hält er mühelos, wenn Hamann etwa dessen Selbstverständnis zitiert ("Ich bin der Separatist des 14. Arrondissements.") und von allerlei Streichen erzählt, die er in der Kindheit ausheckte. Worüber er spricht, scheint unweigerlich sein Wohlgefallen zu finden. Seine Aufgabe ist die Verherrlichung: Er betreibt Propaganda für die Anmut der Welt und ihrer kulturellen Hervorbringungen. Allerdings erschöpft sich dies nicht in bloßer Affirmation. Der touristische Blick, den einzunehmen seine Stimme einlädt, ist aufgeklärt, blendet weder Klimawandel, Raubbau an der Natur, soziale Ungerechtigkeit noch koloniale Unterdrückung aus. Übrigens ernten auch die Torheiten des Tourismus zuweilen leisen Spott. Der Beitrag über Romain Garys Zeit in Tahiti etwa steckt voller Ambivalenzen. Er geht der Frage der Identität in einer unterworfenen Kultur nach; der Bogen zu den notorischen Pseudonymen des Schriftstellers ist rasch geschlagen. In der Südsee ist Gary mit einer Gesellschaft konfrontiert, die offen für das Übersinnliche ist, weil sie nahe an der Natur lebt. Hamanns Aufgabe besteht in Nähe und Repräsentation, er nimmt viele Positionen ein. Im Moment der Sprachaufnahme muss er denken wie die Person, deren Geschichte erzählt wird. Eigentlich verlangt seine Metier eine gewisse Neutralität. Sein Zungenschlag fühlt sich ein.
Besonders schön ist es, wenn aus seiner Stimme die Genugtuung darüber klingt, wie vortrefflich ein Künstler sein Leben eingerichtet hat. An Biographie und Werk von Carl Theodor Dreyer hatte er ohrenscheinlich seine besondere Freude: an dessen Streben, die Reinheit des Glaubens mit filmischen Mitteln darzustellen und die menschliche Seele in Bilder zu fassen. Entzückt bilanziert Hamann: Über 20 Jahre hinweg arbeitete der Regisseur daran, sein Handwerk zu vervollkommnen. Das Bündnis, das ein Künstler mit einer Region eingeht, entzückt ihn nicht weniger – nehmen wir nur einmal den Maler Giorgio Morandi und die Emilia Romagna: "Bis zu seinem Tod ist sie sein Horizont und seine Perspektive." Diese Stimme kennt keinen Überdruss.
Ihr Wohlklang basiert zweifellos auf gelerntem Handwerk. Über Hamanns Werdegang weiß ich nichts. Ein so vorzüglicher Sprecher wird ohne Zweifel viel beschäftigt sein. Aber bislang zögere ich, die Suchmaschine in Gang zu setzen. Für mich ist er unwiderruflich mit seinem Engagement in dieser Sendung verbunden. Seine Stimme ist nicht hoch – ich würde sie im Bariton ansiedeln -, aber sie ist immer hell. Ihr Timbre deckt genau das richtige Alter ab - jenes, in dem man schon viel gesehen hat und nicht müde wird, weiter Ausschau zu halten. Vor kurzem begegnet ich ihm in einer arte-Dokumentation über die Geburt der Carmen wieder. Auch da hörte ich ihm gern zu, aber es kam mir wie ein Seitensprung vor. Nein, er gehört schon an die Stelle, die ich mit ihm identifiziere. Dort gelangt seine Kunst zu ihrer Vervollkommnung. Obwohl wir beide in dieser Woche einen seltenen Rückschlag erlitten. Er sprach den Kommentar zu einer Geschichte über die Anfänge von Hollywood. Ausgerechnet der Name Cecil. B. DeMille ging ihm schwer über die Lippen. Die Enttäuschung verflog rasch, denn ansonsten war er in Form.
Bei der Arbeit an Radiofeatures hatte ich mit vielen hervorragenden Sprechern zu tun (Frank Arnold, Regina Lemnitz, Joachim Schönfelder, Gerd Wameling und anderen), die in meinen Manuskripten immer mehr entdeckten als ich. Sie arbeiteten Aspekte heraus, die mir gar nicht bewusst waren. Hamann gehört in die erste Reihe dieser Zunft. Er geht immer mit, dient unverbrüchlich und phantasievoll dem Geschriebenen. In dem Beitrag über Renaud spricht er Rollenprosa, eignet sich verschmitzt den Argot des Chansonsängers an. Der wurde gerade in dieser Woche wiederholt, aber ich höre immer wieder aufs Neue fasziniert zu. Gerade bei den Wiederholungen fällt mir auf, wie hingebungsvoll er mit Klangfarbe, Rhythmus und Betonung spielt. Was er hervorhebt (ein Künstlername, ein Ereignis, ein kreativer Durchbruch), erhält das Gewicht erfreulichen Gelingens. Den Satzenden verleiht Gerrit Hamann eine erwartungsfrohe Offenheit. In seinem Stimmklang fügen sich die Dinge des Lebens. Er hebt seine Stimme im Diemst der Verlockung: eine Einladung, die Reise an immer neuen Orten fortzusetzen.
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