Berlinische Allegorien
Einer der schönsten Textanfänge, die ich kenne, geht so: "Wer je eine Zwiebel geschält hat, kennt sich aus im Kino des Kanadiers Atom Egoyan." Er beseitigt Schwellenängste: Im Prinzip steht dieses Werk allen offen. Das Komplexe muss gar nicht so kompliziert sein. Warum also habe ich solche Schwierigkeiten, mir einen Reim auf seine jüngste Arbeit zu machen?
Vielleicht gibt es einen Unterschied, weil es es sich nicht um einen Film, sondern ein Theaterstück des Regisseurs handelt?Als ich Egoyans »Donation« in der letzten Aufführung Ende Mai im Gorki Theater sah, hat sie mich aufgewühlt und zuweilen verdrossen. Seither geht sie mir nicht mehr aus dem Kopf. Ein schwebendes Verfahren? Eher ein loses Ende. Ich fand bisher keinen Weg, mich an dieser Stelle damit zu beschäftigen – hätte ich es in eine frühere Aufführung geschafft, hätten zumindest die Berliner unter Ihnen eine Gelegenheit gehabt, meine Eindrücke zu überprüfen. Allerdings wurde die Schlussvorstellung aufgezeichnet. Für die Nachwelt, wie mein Sitznachbar versicherte, der möglicherweise ein Assistent Egoyans war, mir aber nichts Genaueres über die zukünftige Sichtbarkeit sagen konnte.
Nun jedoch kann ich das Momentum nutzen, das durch den Besuch von Mohammad Rasoulofs »Destination: Origin« entstanden ist. Der Anknüpfungspunkte gibt es viele: Ein beiden Fällen nutzt ein Filmemacher die Bühne, um sich mit einem zentralen eigenen Werk auseinanderzusetzen; wiederum tut er es in einer post-dramatischen Form und bedient sich der Videoprojektion (Egoyan weit ausgiebiger als Rasoulof); wiederum steht die Unternehmung im Zeichen einer lebensgeschichtlichen Unmittelbarkeit. Und auch Ende Mai fand ich mich in einem Publikum wieder, das kraft Herkunft einen oft direkteren Zugang zum Stoff hatte.
Mit „Donation“ ist, hier greift zum ersten Mal die Unmittelbarkeit, vordergründig eine Schenkung gemeint: Egoyan und seine Frau Arsinée Khanjian wollen den historischen Kostümfundus ihres Films „Ararat“ dem Gorki spenden. Regisseur und Schauspielerin sind dem Haus verbunden, seit sie 2015 hier mit einer Performance und Installation gastierten. Der damalige Anlass war der 100. Jahrestag des Genozids an den Armeniern, zehn Jahre später setzt sich das Theater unter dem Titel "Armenian Allegories" mit diesem Kulturbruch auseinander. Ein Mitarbeiter des Theaters (Edgar Eckert) will Khanjian zu dieser Schenkung interviewen bzw, dieses Interview gemeinsam mit ihr vorbereiten.
Die Inszenierung hat schon angefangen, bevor das Stück beginnt. Das wartende Publikum kann auf der Bühne eine Videoaufzeichnung der Anlieferung der Umzugskartons mitverfolgen. (Es nieselt Schneeregen, das muss also bereits im letzten Februar geschehen sein.) Den Auftakt des Stücks bildet ein berühmtes Foto, das einen kleinen Jungen zusammen mit seiner Mutter zeigt. Seine Geschichte ist rasch rekapituliert, darin sind die Zwei kurz vor der Flucht vor den osmanischen Truppen porträtiert; der Sohn ist Arshile Gorsky, der als Erwachsener im Exil in den USA eine Gemälde nach diesem Bild schaffen wird. Seine Arbeit daran gehört zu den wesentlichen Szenen von »Ararat«, welche auf den Hintergrund projiziert wird. Dieser Abend, das ahnt man schon, wird im höchsten Maße selbstreferentiell, was ja durchaus eine Art von Denkfaulheit sein kann. „Ararat“ allein ist bereits ziemlich verschlungen, nicht zuletzt durch die Film-im-Film-Struktur. Aber die Reflexion über Exil und Erinnerung wird noch in zahllosen weiteren Filmausschnitten durch dekliniert. In der Häufung geraten sie zur bloßen Illustration, was nicht weiter schlimm wäre, wenn im Stück die Tauglichkeit der Kunst als Agent des Gedenkens hinreichend befragt würde.
Die Szenerie wirkt, trotz all der in ihrem Hintergrund drapierten Kostüme und Kartons, recht konzentriert. Khanjian nimmt an einem Tisch Platz, auf dem eine Rose ein freundliches Willkommen verheißt. Beschaulich wird das Gespräch indes nicht verlaufen, vielmehr bricht sich in seinem Verlauf eine unerwartete Aggressivität Bahn. Zunächst erinnert der Theatermitarbeiter an einer jener Interviewer, die sich am liebsten selbst antworten. Forsch will er sich die Deutungshoheit an sich reißen. Khanjian wirkt ungemein verletzbar - nach einer Krebserkrankung trägt sie ein Stoma, das unter ihrem wallenden Gewand verborgen ist. Aus dem Gespräch wird umgehend ein Verhör, wobei erst einmal weniger die Fragen anklagend wirken, sondern der lauthals anmaßende Tonfall ihres Gesprächspartners. Aus Eckerts Mund klingt schon das Rekapitulieren historischer und biographischer Fakten wie ein namenloser Vorwurf. Man begreift lange Zeit nicht, woher seine Angriffslust rührt und fragt sich bang, wie Khanjian diesen atmosphärischen Terror nur aushalten soll.
Ihre glanzvolle Karriere steht brüsk auf dem Prüfstein (sie hat viele Auszeichnungen erhalten, aber nie einen Oscar, wie der Fragende barsch betont). Welchem Zweck soll die Schenkung übrigens dienen? Vielleicht bringe sie dem Theater mal Erlöse durch den Verleih, bietet die Befragte als möglichen Nutzen an. Die falsche Antwort, ihr Gegenspieler frohlockt. Das anfängliche schöne Pathos - eine kleine Geste, um die Welt zu reparieren -, dieser Debatte über den Wert der Kunst wird zerfleddert. Warum haben sie und Egoyan den Kostümfundus vor Jahren einmal Fatih Akin geliehen für seinen Film über den Genozid, „In the Cut“? Es habe sie berührt, dass ein türkischstämmiger Regisseur dieses Thema in Angriff nahm. Auch diese Worte werden ihr im Munde umgedreht.
Es ist schmerzhaft, dieses erbitterte Tauziehen mitzuerleben. Vieles, namentlich die Erkrankung der Schauspielerin, muss man für bare Münze nehmen. Das Duell geht weiter, mittlerweile werden die zehn Jahre rekapituliert, die seit dem Gastspiel verstrichen sind. Khanjian soll sich für Ihre Arbeit und speziell für ihr Engagement in der armenischen Bürgerrechtsbewegung rechtfertigen. Der Interviewer wird immer unnachgiebiger. In seinem Gebaren nimmt eine sehr deutsche Selbstgerechtigkeit verdruckst Konturen an. Sie verrennt sich, geblendet und kokett. Besteht zwischen ihnen überhaupt noch ein Konsens über die Tatsache des Genozids? Endlich steuert der Dialog auf eine böse Schlusspointe um Undank und Zurückweisung zu, die Khanjian in einen Lacher umwidmet, als sie entgegnet, vielleicht solle die Spende doch besser an die Schaubühne oder das Berliner Ensemble gehen?.
Ich hatte ihren widerständigen Humor während dieses Martyriums wohl ohnehin unterschätzt. Ihr Mann, der nur ein paar Plätze von mir entfernt saß, hatte jedenfalls seine helle Freude an ihren Repliken. Es bereitete ihm Genugtuung, wie wacker sie sich in seinem szenischen Arrangement schlug. Dabei verlief der Abend keineswegs wie am Schnürchen. In einem besonders intensiven, bedrängenden Moment brach plötzlich eine Zuschauerin in Tränen aus und verließ hastig den Saal. „Wow!“ entfuhr es dem Regisseur, der bass erstaunt darüber war, wie seine Inszenierung unverhofft brenzlig geworden.war. Auch bei mir traf sie einen neuralgischen Punkt. Aber auch noch all diesen Zeilen weiß ich noch nicht, wo er lag.
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