Auf die Zahlen schauen

Das Plattdeutsch wird wahrscheinlich niemanden abschrecken. Im Gegenteil, ich hatte den Eindruck, gerade in diesen Passagen des Trailers wurde das Publikum besonders hellhörig. Und im Notfall gibt es ja noch die Untertitel. Aber seit wann braucht ein hiesiger Film Untertitel?

Sie ahnen bestimmt, dass hier von »In die Sonne schauen« die Rede ist, der am Donnerstag angelaufen ist. Das Gegenteil halte ich für ziemlich ausgeschlossen. Das könnte natürlich ein Irrtum sein, der indes mitten ins Herz des heutigen Eintrags führt. Er dreht sich um die Frage, wie hoch der Grad der Aufmerksamkeit für Mascha Schilinskis Film ist. Was werden ihm die mannigfachen Vorschusslorbeeren an den Kinokassen nutzen? Als ich vor ein paar Tagen einen Bekannten traf, der bei der Filmförderung arbeitet, kam unser Gespräch unweigerlich auf diese Frage. Er könne 50000 Eintrittskarten verkaufen, prognostizierte er. Zweifellos kennt er sich auf diesem Gebiet besser aus als ich. Das Drehbuch war vor langer Zeit auch auf seinem Tisch gelandet, aber was er von ihm hielt, verschwieg er bisher. Das liegt vielleicht an einer gewissen, sagen wir einmal norddeutschen Zurückhaltung. (Er spricht übrigens ein wenig Plattdeutsch, aber mit einem anderen Zungenschlag als dem, der vor hundert Jahren in der Altmark gebräuchlich war.) Seine Prognose schien mir zu vorsichtig, immerhin sei das nicht nur ein Kritiker-Film. Er widersprach leise, aber ich meinte, es handle sich hierbei um ein Phänomen, das weit darüber hinausgeht.

Dafür spricht Einiges. Immerhin kommt es nicht so häufig vor, dass ein deutscher Film in Cannes ausgezeichnet wird. Zählt das nach einem Vierteljahr noch? Ebenso fraglich ist, ob der Umstand, dass er für Deutschland ins Oscar-Rennen geht, merkliche Auswirkungen auf das Publikumsinteresse haben könnte. Die Chancen bei dem Wahlkollegium der Academy werden ja ohnehin durchaus angezweifelt: Das sei eine riskante Entscheidung, war zu lesen. Aber das sind praktisch alle deutschen Einreichungen, schon aus dem Grunde, weil sie meist nicht sehr gut sind. Sie folgen einer gewissen Arithmetik (zeitgeschichtliche Stoffe, am besten Nazizeit oder Weltkrieg, vielleicht auch noch DDR). Auch »In die Sonne schauen« erzählt von Geschichte, aber ohne großes G. Doch, das könnte eine Chance sein.

Als ich den Film vor einigen Wochen sah (falls Sie sich nach dem letzten Eintrag fragen, wo: bei einer Pressevorführung), hatte ich den Eindruck, er würde wie ein UFO in die deutsche Filmlandschaft hinein schweben. Etwas Vergleichbares hat man hier noch nicht gesehen. Selbst die hiesige Kritik hat ja Probleme, sich einen Begriff von ihm zu machen. Als habe Edgar Reitz einen Horrorfilm gedreht, hieß es irgendwo. Die Ratlosigkeit ist groß, aber vielleicht ist sie nicht verzagt. Gerade die Unwägbarkeit des Films, sein Anders sein, könnte sein großes Kapital in der Aufmerksamkeitsökonomie sein. Er stellt fabelhafte Ansprüche an das Publikum (bei der PV wurde durchaus auch mal gestöhnt) und seine Länge könnte sich als Erfolgshürde erweisen. Anderseits sind zweieinhalb Stunden im Arthouse das neue 110 Minuten; ich habe beim Anschauen alles störende Zeitgefühl verloren:.Die Atmosphäre hat Wucht. Im Gegensatz zu »Das Kanu des Manitu« hat ein solcher Film kein Plansoll zu erfüllen. Ich nehme an, es gibt nicht einmal so etwas wie einen Plan. Mein Bekannter versprach, sich den Film am Wochenende anzuschauen. Auf seine Rückmeldung bin ich gespannt, ebenso wie auf die Zahlen. Aber wenn meine Phänomen-Vermutung stimmt, entscheidet das Startwochenende noch nicht über Wohl und Wehe der UFO-Landung.

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt