Was genau bedeutete Arbeit in Auschwitz?

»The Zone of Interest«, der in dieser Woche bei uns anläuft, ist ein Sonderfall. Es gab vorher keinen Film wie diesen und ein solcher wird auch danach nicht vorkommen. Gleichwohl weist er in einigen Punkten erstaunliche Ähnlichkeiten mit den zwei Filmen auf, die sich zuvor mit Rudolf Höß auseinandersetzten. Auch Eigensinn hat Verwandtschaft.

Alle drei Filme gehen auf historische Quellen zurück. »Aus einem deutschen Leben« (1977) von Theodor Kotulla sowie »The Interrogation« (2016) von Erez Pery beruhen auf Zeugnissen aus erster Hand, den Verhörprotokollen sowie den persönlichen Aufzeichnungen des Lagerkommandanten, was beide bereits auf eine Nüchternheit des Erzählens festlegt. Kotullas Film entstand, ebenso wie der von Jonathan Glazer, an Originalschauplätzen in Auschwitz. Auch in »Aus einem deutschen Leben« fallen Sätze, aus denen eine obszöne Verkennung der Gräuel nebenan ("Das Lagerleben könnte so schön sein, wenn wir nicht diese Hässlichkeit hätten.") spricht. Entscheidender ist jedoch, dass alle der Überzeugung von Primo Levi und Elie Wiesel folgen, der Holocaust würde sich der filmischen Darstellung entziehen; nicht unbedingt aus Gehorsam gegenüber einem Bilderverbot, aber sehr wohl zur Vermeidung von Pornographie. Sie vertrauen auf Vorstellungskraft und Vorwissen des Publikums. »The Interrogation« ist Levi gewidmet.

Ein großer Unterschied besteht in der Frage ihrer Sichtbarkeit. Perys Film, der komplett in Israel gedreht wurde, feierte Premiere auf dem Festival von Sderot und lief laut IMDb danach auf dem Festival in Warschau. Obwohl er mit deutscher Beteiligung entstand (es gibt einen Alternativtitel: "The Kommandant"), gibt die Seite keine hiesigen Vorführungen an, dafür aber einen Starttermin in Japan. Ob er irgendwo je in den Verleih kam, konnte ich nicht ermitteln. Verschollen ist er gleichwohl nicht, in England und Frankreich ist er als DVD erschienen; auf Youtube ist er in übler Qualität abrufbar. Obwohl Kotullas Film dort ebenfalls zu sehen ist, hingegen in akzeptabler Bildqualität, empfehle ich die DVD-Ausgabe, die Kinowelt 2004 herausbrachte.

Sein Titel weist schon auf das Exemplarische seiner Erzählung hin. „Aus einem deutschen Leben“ ist als Bildungsroman angelegt, der ergründen will, wie einer zum Faschisten und Bürokraten des Massenmords wird. Die 14 Kapitelüberschriften verleihen der Chronik eine brechtsche Lehrstückhaftigkeit, der sich Kotulla jedoch immer mal entwinden kann. Der Film beruht auf dem Roman "Der Tod ist mein Beruf" des Franzosen Robert Merle. Höß heißt hier Franz Lang und wird als Erwachsener von Götz George gespielt, der vor der gleichen Aufgabe steht wie Christian Friedel in »The Zone of Interest« und Romanus Fuhrmann in »The Interrogation«: kein Individuum zu verkörpern, sondern eine repräsentative Figur. Kotullas Herleitung deutscher Barbarei beginnt im Ersten Weltkrieg, als Franz (der so alt ist wie das Jahrhundert) Dienst im Lazarett tut, aber lieber an der Front wäre. Er gerät unter den Einfluss eines verletzten Offiziers, von dem er erfährt, dass es nur eine Sünde gibt: kein treuer Deutscher zu sein. Auch im Frieden bleibt Franz ein Soldat, tritt dem Freikorps bei und malt sich schon 1920 ein Hakenkreuz auf den Stahlhelm. Für das normale Berufsleben ist er nicht geschaffen, für die Demokratie ebenso wenig. Führt so der Weg direkt nach Auschwitz? Langs Biographie erfüllt sich im Gehorsam, nimmt jedoch diverse Wendungen: ein Spielball der politischen Verwerfungen. Für die Ermordung eines KPD-Mitglieds kommt er ins Gefängnis, empfiehlt sich aber für eine Parteikarriere. Seine "wahrhaft deutsche Genauigkeit" beeindruckt Himmler. Es fehlt nur noch ein deutsches Familienleben. Eine solcherart fremdbestimmte Existenz heiratet nicht aus Neigung, sondern auf Befehl. Damit ist nach Himmlers Auffassung die moralische Grundlage für den Dienst im KZ endgültig gefestigt. Indes, Franz`Frau Else gefällt es zunächst nicht, dass er diese Karriere einschlagen soll und er selbst würde wiederum lieber an der Front dienen. Bald genießt die Gattin jedoch die Annehmlichkeiten des Lagerlebens. Sie versteht sich gut mit den jüdischen Insassen, die ihr im Garten helfen. Nur der entsetzliche Geruch in Auschwitz stört sie. Bis 1942 bleibt sie ahnungslos, dann wird sie Mitwisserin. Fast entspinnt sich ein Konflikt zwischen den Eheleuten. Dieser Spalt tut sich bei Glazer nicht auf. Franz Lang weist jede Verantwortung von sich. "Es ist mir unmöglich", sagt er, "einen Befehl nicht auszuführen, physisch unmöglich." George bekommt diesen Satz großartig hin. Seine Darstellung ist beherrscht, nur einmal ist ihm eine emotionale Aufwallung zugestanden. Es ist die Empörung eines Mannes, der besessen ist von der technischen Seite seines Berufs. Die Vernichtungsmaschinerie könnte weitaus schneller funktionieren, wenn mehr "Einheiten" per Zug angeliefert würden. Warum erfährt er das erst jetzt? Die Täterperspektive bleibt in »Aus einem deutschen Leben« ungebrochen bis zum Schluss, als Lang/ Höß 1946 von den Alliierten festgenommen wird. Er bleibt standhaft: Einer Entschuldigung bedarf er nicht, denn er hat gehorcht. Einzig Hitlers Selbstmord erschüttert ihn, er fühlt sich vom Führer verraten.

An diesem Punkt setzt »The Interrogation« ein. Ein polnischer Polizeibeamter ( er könnte auch ein Staatsanwalt sein - der Film ist in mancher Hinsicht sehr einsilbig) wird von seinem Vorgesetzten nach Krakau beordert, um den "Deutschen" erneut zu verhören, der bisher nicht kooperiert hat. Seine Schuld muss bewiesen werden, aber der Vorgesetzte schärft ihm auch ein: "Wir brauchen ihn lebend." Er tut dies aus dem Off, er selbst ist nie zu sehen, Ohnehin spielt der Ton außerhalb des Bildraums eine beharrlich entscheidende Rolle im Film; wenngleich niemals so bedrängend wie bei Glazer. Im Kern ist »The Interrogation« ein Kammerspiel mit zwei Sprechrollen. Höß wird von Romanus Fuhrmann gespielt, den ich als Sprecher bei Radioproduktionen kennen und schätzen lernte. Er ist zugleich ein höchst erfreulicher Nachbar, denn bei einer überraschenden Begegnung stellte sich heraus, dass er in Schöneberg nur zwei Häuser weiter wohnt. 2015 erzählte er mir von der israelisch-deutschen Co-Produktion, auf die er sich vorbereitete. Ich empfahl ihm Kotullas Film, aber den kannte er wohl schon.

Auch Romanus verkörpert Höß nicht. Er spricht ihn. Seine massive Statur spielt eine untergeordnete Rolle. Ab und zu sieht man Höß im Hintergrund, wie er auf dem Gelände des Gefängnisses Pflöcke für einen Zaun in den Boden schlägt. Er ist unzufrieden mit der Art, wie es die polnischen Wärter tun und korrigiert sie. »The Interrogation« spitzt einen Widerspruch zu, der alle drei Filme bestimmt. Sie verhandeln eine genuin deutsche Körperlichkeit, geben ihren Darstellern aber begrenzten physischen Spielraum.

Vor ein paar Tagen traf ich Romanus zufällig auf der Straße und befragte ihn zur Arbeit an dem Film. Er hatte sich in die Memoiren von Höß vertieft, die eine Grundlage der Dialoge bilden sollten. Bei der Vorführung in Sderot entdeckte er einen anderen Film, der den Fokus stärker zum polnischen Polizeibeamten verlagerte. Für Pery, der sein Debüt nach Abschluss des Militärdienstes und seines Filmstudiums drehte, bedeutete er offenbar auch eine kritische Abrechnung mit dem Verhältnis, das sein Heimatland zu den Palästinenser hat. Ich bin nicht sicher, ob Romanus der Film tatsächlich gefällt.

Allerdings liegen ihm und seinem Leinwandpartner Maciej Marczewki die strenge formale Reduktion, der szenische Minimalismus sehr. Beim Verhör schweigt Höß zunächst, sein Blick bleibt versteinert. Aber der polnische Beamte ist ein ebenbürtiger Gegenspieler. Er lockt ihn aus der Reserve: "Wir lieben beide die Herausforderung und haben keine Angst, uns die Hände ein wenig schmutzig zu machen." Ihnen genügen wenige Requisiten, darunter ein Foto vom Torbogen des Lagers. Auf das blickt Höß eingangs herab, kurz sieht man die Hand, in der er es hält. (Später gibt es noch eine weitere Großaufnahme von ihr, wie sie sich kurz am Rand des Tisches festhält.) Von diesem Foto geht alles aus. Das „Arbeit macht frei“, so erfährt man bei Kotulla, hat Höß schon in Dachau erfunden. Der polnische will genauer wissen, was es damit auf sich hat. Die Arbeit sei ein gutes Zuchtmittel gewesen, gerade für instabile Inhaftierte. Romanus' Spiel kommt ohne Affekte aus, sein Höß antwortet gewissenhaft, präzise, korrekt. Diese Diktion hält er den ganzen Film über aufrecht. Sein Gegenüber packt die Ungeduld, er will keine formellen Antworten mehr. Aber Höß wankt nicht. Sein Selbstbild scheint intakt, zeigt jedoch merkwürdige Risse auf. Er sei in Auschwitz ein anderer Mensch geworden, sei durch die Arbeit verhärtet worden, habe sich isoliert. Er redet von Unbehagen und Missstimmungen, räumt ein, den „Ereignissen nicht ohne innere Anteilnahme gegenüber“ gestanden zu haben. Es war seine Pflicht, das Grauen mitanzusehen und auszuhalten. Zweifel hegt er an seiner Eignung für diese Aufgabe, nicht an ihrer Notwendigkeit. Seine Erzählung bleibt entsetzlich kohärent. Nie verlässt sie den Rahmen, in dem schon Franz Lang argumentierte. Sein Gegenüber will die Wahrheit erfahren, aber auch eine menschliche Regung entdecken. Das ist ihm nicht vergönnt. In »The Interrogation« legt ein Bürokrat Rechenschaft ab: nicht gegenüber der Menschheit, sondern nur sich selbst.

 

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