Schon zwei Jahre

Er und seine Mutter waren gerade erst eine Station zuvor zugestiegen, als unsere S-Bahn unvorhergesehen lange in Charlottenburg anhielt. Während ich mir Sorgen um meinen Anschluss in Spandau machte, freute der kleine Junge sich gewaltig über die Unterbrechung. Man merkte sofort, dass er nicht das geringste Talent dazu besaß, sich zu langweilen.

Selbstverständlich hatte er den Fensterplatz in Beschlag genommen, als sie sich am Savignyplatz auf die Bank gegenüber setzten. So konnte er die Gegend ausspähen, in der wir auf unbestimmte Zeit stehen blieben. Sein Blick wanderte zum Stuttgarter Platz hinüber, wo er rasch auf etwas Sehenswertes stieß. Auf einem Dach waren lauter Fahnen angebracht, mit denen ein Hotel seine Weltoffenheit bewarb. Sie flatterten munter im Wind, denn dieser Sommermorgen war noch ziemlich frisch. Unverzüglich machte er seine Mutter darauf aufmerksam, die nun von ihrem Smartphone aufschaute und sich der Neugier ihres Sohnes widmete. Sogleich begann ein Ratespiel: Zu welchen Ländern gehörten die Flaggen?

Der Junge war ganz bei der Sache. Sein Alter konnte ich schwer schätzen – er mochte in der vierten Klasse sein -, aber er kannte sich bestens aus. Prompt hatte er die österreichische Fahne ausgemacht; auch die schwedische und französische erkannte er sofort. Wir staunten nicht schlecht, dass sogar die Nationalfarben Brasiliens über dem Hotel wehten. „Aber wo ist die Fahne der Ukraine?“ fragte er. Es klang Entrüstung aus seiner Stimme: Sie gehörte doch dazu! „Schau genau hin“, spornte ihn die Mutter an. Eine Sekunde später entdeckte er auf der letzten Fahne tatsächlich den blauen und den gelben Streifen. Ich nickte den Zweien voller Bewunderung zu. Der Junge wurde aufgeweckt erzogen. Sie erwiderten mein Lächeln, ohne dessen Grund zu kennen. Wir wünschten uns einen guten Tag, als sie ein paar Stationen später ausstiegen und meine Sorge verflogen war, ob ich den Zug in Spandau erreichen würde.

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