18 Briefe und ein Telegramm

Es gibt literarische Vorlagen, die sich strikt der filmischen Adaption entziehen. Der kurze Briefroman "Address unknown" (Adressat unbekannt) von Kressmann Tayler gehört allein schon dank seiner Konstruktion dazu. Er besteht aus nichts anderem als einer jüdisch-deutschen Korrespondenz, arbeitet mit kühnen Ellipsen: klaffenden Leerstellen, die einzig die lesende Phantasie füllen kann. Und nach einer dramatischen Wendung lässt sich das Entscheidende nur noch zwischen den Zeilen lesen.

Zuerst erschien der Roman (recht eigentlich ist es eine Novelle) 1938 in dem Magazin "Story". Die Auflage war in Windeseile ausverkauft. Rasch erschien eine Buchausgabe, die ein Beststellererfolg wurde. Die Filmrechte waren rasch verkauft. Kressmann Taylors Geschichte war brandaktuell: Sie handelt von einem unbescholtenen Mann, der zum Faschisten wird und von einem Juden, der zurückschlägt. Die Autorin, deren Vornamen Katherine der Verleger augenblicklich strich (er glaubte, niemand würde einer Frau einen solchen Stoff zutrauen), schrieb aus eigener Anschauung, sie hatte Nazideutschland einige Jahre zuvor als Journalistin bereist.

Sie erzählt von Max Eisenstein und Martin Schulse (sic), die gemeinsam eine erfolgreiche Galerie in San Francisco besitzen. 14 Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs kehrt Martin mit seiner Familie in die Heimat zurück. Er ist überzeugt, in ein weltoffenes, demokratisches Deutschland zu kommen. Die Partner schreiben einander eifrig, sie führen ihre Geschäftsbeziehung fort und beteuern ihre unzerbrechliche Freundschaft. Der Tonfall von Martins Briefen ändert sich zuerst schleichend, dann zusehends. Max ist fassungslos, wie bereitwillig sein alter Freund den neuen, menschenverachtenden Geist umarmt, der sich ab 1933 Bahn bricht. Im August des Jahres kommt es zum Bruch; nur Max schreibt noch von Freundschaft, während Martin die Korrespondenz beenden will, die ihm an seinem neuen Posten in einer Behörde schaden könnte. Einige Monate später jedoch bittet ihn Max, dass er sich um seine Schwester kümmert, die in Wien eine Karriere als Schauspielerin begonnen hat und bei einem Gastspiel in Berlin als Jüdin beschimpft wurde. Die Antwort beginnt ohne Anrede, dafür mit „Heil Hitler!“. Nun kommt es zu jener fatalen Wendung, die ich eingangs erwähnte, aber auch an dieser Stelle nicht ausplaudern werden. Brüsk folgt darauf ein Telegramm mit kryptischen Geschäftszahlen, dem ähnlich unbegreifliche Briefe von Max folgen. Er weiß, dass die Zensur mitliest.

Wie soll man das nur in Szenen fassen, diese Rachegeschichte, die sich im erzählerischen Off zuträgt? Ist eine Verfilmung nicht ohnehin immer ein Diebstahl, der uns die Bilder nimmt, die wir bei Lesen vor Augen haben? Falls Sie heute in Potsdam oder Umgegend weilen sollten, hätten Sie die Gelegenheit, das zu überprüfen. "Address unknown", den der visionäre Production Designer William Cameron Menzies 1944 inszeniert hat, läuft im Filmmuseum in der Reihe über das jüdische Filmerbe, die mich bereits im vergangenen Monat („Internationale Atmosphäre“ vom 6. 12.) beschäftigte. Aufschlussreich wird auch der Vortrag sein, den Heike Klapdor vor der Vorführung hält "Opfer und Täter – Der blinde Fleck des amerikanischen Anti-Nazi-Films". Sie ist eine ausgewiesene Spezialistin für das Filmexil - tatsächlich wirken eine ganze Reihe von Emigranten mit, vor der Kamera etwa Mady Christians, Carl Esmond (Willy Eichberger) und Peter van Eyck; die Partitur stammt von Ernst Toch, die Kamera führt Rudolph Maté und für die Szenenbilder zeichnet offiziell Walter Hölscher – und die Frage, warum dieser Film ein blinder Fleck war, dringt auf Antwort.

Bei seiner Premiere 1944 erhielt er gute Kritiken und wurde für zwei Oscars (Musik und Szenenbild) nominiert. An den Kinokassen hätte er eigentlich von dem Oscar profitieren sollen, den Hauptdarsteller Paul Lukas (Martin) gerade für „Watch on the Rhine“ erhalten hatte, wurde jedoch ein Misserfolg; Danach verschwand er für Jahrzehnte unter dem Radar. Als Kressmann Taylors Novelle 1992 erneut in "Story" veröffentlicht wurde (als Warnruf angesichts der Neonazis, die seinerzeit im wiedervereinigten Deutschland und Osteuropa lautstark auf den Plan traten), blieb er unentdeckt. Auch in den Retrospektiven, die Menzies Mitte des letzten Jahrzehnts in den USA gewidmet wurden, fehlte er. Ich glaube, seine dortige Wiederentdeckung verdankt er federführend dem Film-Noir-Spezialisten Eddie Muller. Ob er in diesen Kontext gehört, ist umstritten - ästhetisch kann man ihn diesem Stilterrain durchaus zurechnen dank der beklemmenden Schattendramaturgie Rudy Matés. Menzies' Biograph James Curtis schreibt von "solid blacks an desperate, unforgiving whites".  (Die Blu-ray der Anthologie "Noir Archive", in der er 2019 erschien, war in den öffentlichen Bibliotheken Berlins ewig ausgeliehen und die Liste der Vorbestellungen lang.) Die Novelle avancierte 2012 überraschend zu einem Bestseller in Frankreich (mit angeblich 600000 verkauften Exemplaren) und Deutschland. Heute ist die Geschichte so brankaktuell wie zu Kressmann Taylors Zeit.

Falls Sie "Address unknown" nicht in Potsdam sehen können, finden Sie ihn auf Youtube in einer Bildqualität, die ganz gut erahnen lässt, was Menzies und Maté vorhatten. Unter dem Schlagwort stoßen sie auch auf Mullers sehenswerte An- und Abmoderation des Films auf "Turner Classic Movies". Visuell ist er atemberaubend. Matés Einsatz der Tiefenschärfe, etwa in der Galerie in San Francisco oder einem Theater in Berlin, ist bestrickend. Den Szenenbildern, auf die Menzies starken Einfluss nahm (jede der 800 Einstellungen hält sich akribisch an seine Storyboardzeichnungen), eignet eine monumentale Höhe, wie man sie seit dem Stummfilm nicht mehr sah. Die Dekors in Nazi-Deutschland muten an wie Kathedralen, in denen ein neues, schwefelhaftes Evangelium gepredigt wird.

PS: Mein Freund Michael Omasta schreibt mir gerade aus Wien, dass er "Address unknown" 1993 in der Filmexil-Reihe "Aufbruch ins Ungerwisse" zeigte und begeistert war. Ganz unsichtbar war er also nicht. Aber In Deutschland kam er nie in den Verleih. .

 

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