Zugkraft

Die Filmfestspiele von Venedig werden nun doch nicht mit Luca Guadagninos neuem Film »Challengers« eröffnet, da Hauptdarstellerin Zendaya wegen des Streiks der US-Schauspielergewerkschaft ihn nicht am Lido vertreten kann. Festivalchef Alberto Barbera musste die Herausforderer kurzfristig durch einen U-Boot- Kommandeur ersetzen.

Natürlich könnte auch »Commandante« ein Titelanwärter sein. Der Historienfilm handelt von Kapitän Salvatore Todaro, der während des Zweiten Weltkriegs im Mittelmeer die Schiffbrüchigen eines belgischen Handelsschiffs rettete, das er zuvor versenkt hatte, weil es unter britischer Flagge fuhr. Der als "Gentleman der Meere" gefeierte Marineoffizier unternahm einen Monat später eine weitere Rettungsaktion, als er die Überlebenden eines britischen Frachters an Bord nahm. Der neue Festivalauftakt kann auf ein patriotisches Heldenstück hinauslaufen, aber auch aktuelle Relevanz gewinnen in einem Land, das derzeit federführend von einer Partei regiert wird, die große Stücke auf Mussolini hält.

Die Entscheidung, einen Film zu ersetzen, fällt man nicht freiwillig, sondern notgedrungen. Sie lässt sich auch nicht ganz so leicht verkaufen: Dem Nachrücker haftet das Malum an, nur die zweite Wahl zu sein. Vom Berlinale-Wettbewerb 2005 fällt mir ein einschlägiges Beispiel ein, als »Fateless«, Lajos Koltais Verfilmung von »Roman eines Schuldlosen«, kurzerhand an die Stelle eines US-Films trat. Über den hat sich seither gnädiges Vergessen gelegt, dem Festivalleiter war er wohl vor allem wichtig, weil Meryl Streep die Hauptrolle spielt. Dann jedoch konnte sie nicht nsch Berlin kommen. Wie mir ein Kollege berichtete, der sich im osteuropäischen Kino auskennt, hatte Dieter Kosslick zuvor »Fateless« abgelehnt mit der Begründung, es gebe "Hunderte Filme wie ihn". Danach führte ich eine lebhafte Diskussion mit einem anderen Kollegen, der Kosslicks Gebaren weit weniger skandalös fand als ich. Er meinte, der Rote Teppich sei für ein Festival eben genauso wichtig wie dessen Programm: Filmfestspiele seien eben nicht nur ein Qualitätswettbewerb, sondern ein Fest.

Da es seit Ewigkeiten keinen Streik der amerikanischen Schauspielergewerkschaft gegeben hat, wird einem jetzt erstmals richtig bewusst, welch machtvolles Instrument der Boykott von Roten Teppichen ist. Produzenten und Studios brauchen die Stars dort wohl erst recht. Wie ernst die 160000 Mitglieder von SAG-AFTRA deren Statuten nehmen, wurde bei der London-Premiere von »Oppenheimer« deutlich. Sie musste um eine Stunde vorverlegt werden, damit das Ensemble den Film noch vor Mitternacht vorstellen konnte und damit nicht zu einer Bande von Streikbrechern wurde. Stars verschaffen einer Produktion schlicht eine größere Sichtbarkeit. Drehbuchautoren fallen demgegenüber weniger ins Gewicht. Dass Co-Szenarist Noah Baumbach der US-Premiere von »Barbie« fernblieb, fiel kaum einem Beobachter auf. Das bedeutet nicht, dass Studios & Produzenten die Drehbuchautorengewerkschaft weniger fürchten. Man denke nur an die goldenen Worte des von Alan Arkin gespielten Lester Siegel in »Argo«: "You're worried about the Ayatollah? Try the WGA."

Da die konzertierten Streiks durchaus noch mehrere Monate dauern können, wackeln nicht nur zahlreiche Starttermine im nächsten Quartal. Was wird beispielsweise aus dem Sequel von »Dune«, das für den November avisiert war? Der US-Start von »Challengers« ist inzwischen für den April nächsten Jahres angesetzt - Guadagnino könnte ihn fast noch Cannes anbieten, wo man allerdings nicht daran gewöhnt ist, die zweite Wahl zu sein. Wenn der Kalender derart durcheinander gerät, könnte das auch massive Auswirkungen auf die Oscars haben. Die Studios nutzen Venedig und Toronto gern als Schaulauf. Hochkarätige Titel wie »Maestro«, Bradley Coopers Biopic über Leonard Bernstein, stehen nun zur Disposition. Auch Winterfestivals wie Sundance und die Berlinale könnten noch betroffen sein. Wobei eine nicht ganz unwichtige Ausnahme gilt: Offenbar lässt SAG-AFTRA zu, dass ihre Mitglieder PR für "wirklich unabhängige" Produktionen machen.

Dass es auch ohne geht, hat das Studio Ghibli gerade bravourös vorgeführt. Die Sorgen, die sich Hayao Mizayaki machte (siehe "Unvoreingenommen" vom 14. dieses Monats), waren unbegründet. Sein neuer Film »How do you live?« hat mit einem Einspielergebnis von 1,83 Milliarden Yen den besten Start in der Studiogeschichte hingelegt und in wenigen wenigen Tagen »Das wandelnde Schloss« (1,48 Milliarden) aus dem Jahre 2004 noch übertroffen. Die Zahlen sind nicht inflationsbereinigt, aber trotzdem: ein Zuschauerrekord ohne jedes Marketing! Und da das japanische Publikum ein wenig langmütiger ist und ein Spitzenreiter dies auch noch viele Wochen bleiben kann, ist kein Ende abzusehen. Was für eine erfreuliche Nachricht: Der Film hat sich selbst geholfen, die Mundpropaganda hat es gerichtet. Dieses Phänomen ist einzigartig, es verdankt sich wesentlich dem Status und Ansehen, welche der Regisseur in Japan genießt. Übertragbar auf den amerikanischen Markt, wo der Film unter seinem neuen internationalen Titel »The Boy and the Heron« (Der Junge und der Reiher) bis Jahresende anlaufen soll, ist es nicht. Ob man dennoch Lehren aus ihm ziehen wird? Schwer vorstellbar angesichts der ganzen Industrien, die dort am Marketing hängen und ungern mit der eigenen Verzichtbarkeit konfrontiert werden. Für Venedig hingegen, dessen vollständiges Programm morgen vorgestellt wird, könnte das eine gute Nachricht sein. Miyazakis Filme feierten dort schon mehrfach internationale Premiere. Nicht als zweite Wahl, sondern als erste.

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