Ein Zeitfenster

Man könnte meinen, Corona gehöre schon der Geschichte an. Die zahlreichen Infektionen während der Berlinale, die ich in meinem Umfeld wahrnahm, schienen bereits zur Routine zu gehören. Ich war überrascht, als eine Freundin von den Warnungen auf ihrer Corona-App berichtete. Gibt's die noch? Längst wird Bilanz gezogen: Es war ein Fehler, die Schulen zu schließen, die Masken waren wirkungslos etc.

In dieses Klima des Revisionismus brach gestern am Spätnachmittag der Anruf eines befreundeten Paares ein, die beide positiv getestet waren. Ihre Symptome klangen gar nicht so leicht. Wir hatten uns in den nächsten Tagen treffen wollen. Ich war eigentlich vollends damit beschäftigt, mich von der Einhaltung einer Deadline zu erholen, die mich seit Monaten plagte (und mit dafür verantwortlich war, dass ich den Blog letzthin sträflich vernachlässigte). Am Abend war mir nach Zerstreuung, nach verantwortungslosem Fernsehen. »Greenland« mit Gerard Butler schien mir die geeignete Wahl. Ich traf sie aus einem Anflug von Nostalgie heraus. Immerhin war das ein potenzieller Blockbuster, der von der Pandemie verhindert wurde. Bei uns startete er im Herbst 2020 zwei Wochen vor Beginn des zweiten Lockdowns. Eine befreundete Redakteurin hatte ihn noch wacker im Kino gesehen, bevor sich das Zeitfenster wieder schloss und als auch ihr nach Zerstreuung zumute war.

Natürlich ist er kein Schlüsselfilm zur Pandemie, aber er passte damals und gerade auch zu meiner gestrigen Stimmung. Kein Wunder, ein Katastrophenfilm. Im Gegensatz zum Virus besitzt er den Vorzug der Anschaulichkeit, was natürlich auch eine willkommene Abstraktion war. Meteoriten stürzen vom Himmel und legen ganze Metropolen in Schutt und Asche. Von denen, die außerhalb der USA liegen (Bogota!), erfährt man eingangs immerhin aus den TV-Nachrichten. Aber wesentlich ist dann doch das heimische Territorium. Panik bricht aus, die Highways sind verstopft, es kommt zu Plünderungen. Wie trivial und tröstlich, dass damals nur das Toilettenpapier knapp wurde, weil andere es unverschämt horteten.

Gerard Butler, der einen Bauingenieur spielt, erhält eine Nachricht vom US-Präsidenten, dass er und seine Familie zu den Auserwählten gehören, die evakuiert werden sollen. Zuerst erreicht sie ihm auf dem Handy und dann erscheint ein Warnsignal auf dem Bildschirm im Wohnzimmer. Woher weiß die Heimatschutzbehörde, dass es sein Fernseher ist? Es bleibt keine Zeit für diese Spielart von Paranoia. Mulmiger ist das Moment der Auswahl, der Triage: Warum er, protestieren seine Nachbarn, und nicht wir? Alle sind der Katastrophe schutzlos ausgeliefert, aber einige sind gleicher als andere. Der Zorn bleibt vorerst zivil. Weshalb Butler privilegiert ist, erklärt der Film nicht wirklich. In der Ehe gibt es Probleme, aber die Familie wird zusammenstehen.

Bemerkenswert schien mir, wie untypisch die Rolle für Butler zunächst ist: eine Figur des Rückzugs. Trotz demonstrativen Pflichtbewusstseins lässt er sich eingangs auf der Baustelle von einem Untergebenen überreden, Feierabend zu machen. Daheim macht er keine Anstalten, die Distanz zu überwinden, die seine Ehefrau errichtet hat. Währenddessen lenken am Himmel die Kondensstreifen der Airforce-Geschwader fast davon ab, dass Meteoritenteile hearbstürzen. Das Schauspiel fasziniert seinen Sohn. Als fürsorglicher Vater hält er seine Sorge im Wartetstand.

Natürlich kann das nicht lange so weitergehen, dass Butler die Dinge nur zustoßen. Das Genre verlangt nach viriler Tatkraft. Aber dieser Film wartet noch ab. Als die Familie den rettenden Flughafen erreicht, gehen die Probleme dann richtig los. Im Tumult haben sie die Insulinspritzen, auf die der Sohn angewiesen ist, im Auto vergessen. Obwohl die Heimatschutzbehörde bestens informiert schien, war ihr entgangen, dass der Junge krank ist. Deshalb darf er nicht ins Flugzeug. Brüsk kommt sich die Familie abhanden. Das Mobilfunknetz funktioniert unter diesen Umständen allenfalls sporadisch; gerade so, wie es der Dramaturgie passt. Mutter und Kind steuern auf Butlers Schwiegervater zu, aber auch sie werden zwischendurch getrennt. Der Sohn wird entführt, weil er ein Armband trägt, das den Zutritt zu den Evakuierungsflughäfen gestattet.

Das Drehbuch versteht es raffiniert, Aussichtslosigkeit zu konstruieren und dann doch zu parieren. Mal scheinen die Behörden gut organisiert, mal nicht im Geringsten. Also kommt es letztlich auf das Individuum an. Allmählich akzeptiert der Film diese Genrekonvention. Es treten Retter auf den Plan, für deren Einsatz man durchaus dankbar klatschen würde. Auch Butler ist derweil auf seinen Irrwegen zu einer individuellen Lösung gelangt. Er hat von privat organisierten Flügen gehört, die nach Grönland zu den rettenden Bunkern gehen. Endlich wird er ein Anführer und hört auf, einer zu sein, der einfach nur überleben will. Die heroische Vision zählt, da ist es nebensächlich, dass Rom, Paris und der Rest der Welt nur noch Ruinen sind. In Grönland soll der Neuanfang gelingen.

Hartnäckig wird ein Sequel des Films angekündigt, der nicht der Erfolg sein konnte, der er werden sollte. Das könnte zwar dennoch eine ökonomische Logik besitzen, aber ich frage mich, wo die narrative liegen könnte. Diese Katastrophe ist auserzählt. Meinen Freunden geht es heute nicht wesentlich besser.  

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