Den Faden wieder aufnehmen

Der erste Artikel von mir, der in epd Film erschien, war ein Porträt des französischen Regisseurs Jacques Becker. Das war im Frühjahr 1987, zu einem Zeitpunkt, an dem ich noch Student und zugleich schon ein dilettierender Filmjournalist war.

Es handelte sich beileibe nicht um den ersten Text, den ich der Reaktion angeboten hatte. Einige Interviews hatte Wilhelm Roth zuvor abgelehnt und mir mit einer jeweils ausführlichen Begründung (kommt heute wohl nicht mehr vor) zurückgeschickt. Auch der Becker-Text bereitete ihm offensichtlich Schwierigkeiten. Als ich das Heft dann in Händen hielt, war ich erst ziemlich gekränkt und dann ziemlich erleichtert. Roth hatte das (eher jugendliche als cinéphile) Pathos einiger Passagen komplett getilgt und an vielen anderen Stellen meiner Prosa auf die Sprünge geholfen. Alles in allem waren das lehrreiche Erfahrungen, was ich damals allerdings noch nicht begriff: Der Redakteur betrieb Autorenpflege.

Denn irgendetwas an dem Text musste ihm gefallen haben; ich nehme an, es war die Begeisterung, die aus ihm sprach. Ich brannte für den Regisseur von »Antoine et Antoinette«, »Goldhelm«, »Wenn es Nacht wird in Paris« und »Das Loch«. Zuerst erfuhr ich von ihm in Truffauts "Die Filme meines Lebens" und bald liefen seine Filme mit einiger Häufigkeit im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Die alten Videocassetten habe ich noch, wenngleich sein Werk inzwischen auch hier zu Lande zum Teil auf DVD erschlossen ist. Später fand ich dank einiger Retrospektiven in der Schweiz Gelegenheit, das Ungelenke meiner ersten Annäherung zu überschreiben. Er blieb ein work in progress für mich; es dauerte lange Jahre, bis ich sein Oeuvre komplett kannte und feststellen durfte, dass selbst sein minderster Film, »Ali Baba et les quarante voleurs« mit Fernandel bemerkenswerte Qualitäten aufweist.

Gerade bietet eine Retrospektive des Österreichischen Filmmuseums mir Gelegenheit, ihn (aus der Ferne, schreibend) noch einmal in einem anderen Licht zu betrachten. Die begnadeten Wiener Trüffelschweine sind auf die Idee gekommen, ihn mit Claude Sautet zusammen zu spannen. Bis Ende Juni hat das dortige Publikum also die Chance, abends ein Double Feature meiner zwei französischen Lieblingsregisseure (pardon, Jacues Audiard und Jacques Demy!) zu sehen - gestern beispielsweise »Nelly und Monsieur Arnaud« und »Das Loch« oder am kommenden Freitag »Die Dinge des Lebens« und »Goldhelm«. Ich bin sicher, dass die Filme sich in der Zusammenschau gegenseitig erhellen: in ihren Gemeinsamkeiten wie in ihren Gegensätzen. Beide, die Verwandtschaft wie die Unterschiede, sind so offenkudig, dass man sich wundert, weshalb in Frankreich noch niemand an diese Paarung gedacht hat. Felix Austria!

Auch diese Zwei waren Zögerer im schnell getakteten Filmgeschäft, die sich heroisch lang Zeit nahmen für ihre Filme (wenngleich nicht mit so langen Pausen wie im vorangegangenen Eintrag). Ihre Drehbücher arbeiteten sie mit einer Akribie aus, die im Falle beckers gefürchtet war. Wenn ein Autor eine Szene mit der Dialogzeile "Bonjour, Monsieur!" eröffnen wollte, erhob er augenblicklich tausend Einwände, man diskutierte stundenlang, bis es dann doch bei "Bonjour, Monsieur!" blieb. Sautet war nicht weniger skrupulös und reflektiert. Eigentlich war es ihnen immer recht, wenn sich das Leben unverhofft in die dramaturgischen Konventionen hineindrängte. Ihre Figuren betrachteten sie vorzugsweise in den Momenten, in denen die Last von ihnen abfällt, eine Geschichte zu erzählen. Für Becker ist der Alltag ein Abenteuer, das ihn auch ästethisch herausfordert: Er experimentiert mit dem filmischen Verstreichen der Zeit. Für Sautet ist der Alltag ein Terrain, in dem die Lebenskrisen schwelen, um dann auszubrechen. Das Einverständnis dieser Zwei beruht in einem diskreten Humanismus, der sich in vermeintlichen Nebensächlichkeiten entfaltet, die für andere Filmemacher kein Anlass wären.

Die Idee, ein filmisches Werk in unverhoffte Kontexte zu stellen, hatte das Filmmuseum nicht zum ersten Mal. Vor einigen Jahren konzipierte es für die Viennale eine Retrospektive, in der Otto Preminger auf Gleichgesinnte, Nachahmer und Widersacher traf. Bei anderer Gelegenheit verstrickten sie Maurice und Jacques Tourneur sowie Max und Marcel Ophüls in einen Dialog. Mit Valerio Zurlini und Antonio Pietrangeli porträtierte es zwei Weggefährten, die - oft im gleichen Genre - unterschiedliche Richtungen einschlugen. Was könnte der Ertrag solcher Zusammenschauen sein? Ich denke, erst einmal eine wechselseitige Belebung. In der Begegnung behalten die Oeuvres ihre je eigene Kontur, aber sie öffnen sich zugleich in spannungsvoller Gegenrede. Der Vergleich muss kein Wettkampf sein, vielmehr ein Austausch. Die großen Kunstwerke verstehen einander, existieren in friedlicher Co-Existenz, meinte Truffaut, der übrigens sowohl Becker wie Sautet schätzte. In ihrem Fall dient das Retrospektivenprinzip gewiss auch einer Rehabilitierung, denn der Ältere stand stets im Schatten seines filmischen Ziehvaters Jean Renoir und der Jüngere wurde lange Jahre als ein bourgeoiser Filmemacher geringgeschätzt, dem es an der Entlarvungsschärfe eines Chabrol gebricht. Gleichsam eine doppelte Wiederkehr des Verdrängten.

Ihre Sensibilitäten sind einander verwandt, mehr noch: vertraut. Sautet ist kein Erbe Beckers, obwohl er für ihn kurzzeitig als Motivsucher arbeitete und dabei gewiss hinzulernte. In der Liste seiner Lieblingsfilme von 1982, die im Anhang von "Claude Sautet – Regisseur der Zwischentöne" abgedruckt ist (siehe „Euphorische Skepsis“ vom 9. 7. 22), findet sich kein einziger Titel von Becker. Im Gespräch mit Michel Boujut zeigt sich indes eine große, reife Bewunderung für ihn. Als sie sich kennenlernen, ist Sautet im Filmgeschäft kein blutiger Anfänger mehr, hat Erfahrungen als Assistent und Drehbuchautor gesammelt. Begegnen sie sich da schon auf Augenhöhe? Beckers aristokratische, zugewandte Wesensart ermöglicht das. Er sieht sich einem jungen Kollegen gegenüber, der ein ebenso gründlicher Zweifler ist wie er selbst. Beckers Urteil über sein Regiedebüt, den Gangsterfilm »Der Panther wird gehetzt«, ist Sautet wichtig, nachdem er ihm eine Arbeitskopie gezeigt hat, stimmen beide überein, dass der Anfang in Italien hätte länger sein müssen. Das ist zugleich die Übergabe einer Stafette, denn Sautets Regiedebüt kommt im selben Jahr (1960) heraus wie Beckers letzte Arbeit, der Gefängnisfilm »Das Loch« und beide basieren auf Romanen von José Giovanni. Sautet nimmt den Faden auf, was aber nicht bedeutet, dass er fortan am gleichen Strang wie Becker ziehen wird. Es entsteht, nach mehreren Anläufen, in einem Filmgeschäft, das durch die Nouvelle Vague unwiderruflich verändert wurde. Er hatte den Vorzug, keiner der Kapellen des französischen Kinos anzugehören und ebensowenig wie Becker hat er Schule gemacht: Solitäre, aber nicht allein.

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