Orientierung

Es gibt wenige Worte, die einen so beruhigenden Klang haben wie die Vokabel Klassiker. Vielleicht gebrauchen wir sie deshalb so inflationär. Sie etabliert augenblicklich eine Ordnung, in der sich ein Film bewährt hat und verleiht ihm einen Status, der sich objektiven Kriterien verdankt.

Insgeheim wissen wir natürlich, dass derlei Urteile im Gegenteil subjektiv geprägt, kulturell bedingt und überdies wandelbar sind. Aber das stört uns meist nicht, denn der Gebrauch des Wortes ermächtigt uns. Mit ihm können wir Filmgeschichte fest-, aber auch jederzeit neu schreiben. Insofern bewegt sich die Sektion "Berlinale Classics" auf einigermaßen gesichertem Terrain, zumal sie neben digital restaurierten Klassikern auch aufgefrischte Wiederentdeckungen umfasst. Wozu man Werner Hochbaums »Brüder« zählen soll, lässt sich vielleicht nicht mit Bestimmtheit sagen, aber ohne Zweifel war die gestrige Aufführung des Stummfilms mit brandneuer Musik ein Höhepunkt der diesjährigen Auswahl, über den ich bei anderer Gelegenheit ausführlicher schreiben will.

Heute scheint mir bemerkenswert, dass vier der insgesamt sieben Titel zu den Neuen Wellen gehörten, die in den 1960ern und in einem Fall zu Beginn dieses Jahrtausends in ihren jeweiligen Kinematographien anbrandeten: in Italien (»Mamma Roma« von Pasolini, der in ein paar Wochen 100 geworden wäre), Japan (»Kawaita Hana«/ »Pale Flower« von Masahiro Shinoda), der Tschechoslowakei (»Lerchen am Faden« von Jiri Menzel, der im September starb) und China (»Suzhou River« von Lou Ye, der zur sechsten Generation des Festlandkinos zählt). »Pale Flower«, der heute und morgen läuft, ist für mich der erstaunlichste Film darunter. Er hat mich ganz unvorbereitet erwischt: Er sieht anders aus und und klingt anders als jeder japanische Film, den ich davor gesehen habe. Ich hatte meine helle Freude an ihm und eine dunkle: ein Film noir mit wenigen, beinahe dokumentarisch anmutenden Straßenszenen bei Tage. Es fällt mir schwer, mir einen Begriff von ihm zu machen und ich fürchte, das wird ein Text, der mich am Ende ganz und gar nicht nicht zufriedenstellt.

Unter den Regisseuren der japanischen Neue Welle steht Shinoda nach wie vor im Schatten von Nagisa Oshima, Shohei Imamura und selbst Yoshishige Yoshida, der vor gut einem Jahrzehnt bei der Filmkritik plötzlich und ganz zu Recht wieder in Mode kam. Sein Werk lässt sich schwer einiordnen, es greift stilistisch und thematisch in unterschiedliche Richtungen aus. Sein noch immer bekannteste Film ist »Double Suicide« nach dem Bunraku-Stück, das Takeshi Kitano vor geraumer Zeit als »Dolls« neu verfilmt hat. Zuletzt habe ich seine Erstverfilmung von »Silence« gesehen, um ihn mit der Version von Scorsese zu vergleichen (sie unterscheiden sich sehr). »Pale Flower« ist ein Kassensturz des japanischen Studiosystems, ein Produkt der Krise. Die Shochiku war zu Beginn der 1960er völlig verunsichert durch die Konkurrenz des Fernsehens und suchte verzweifelt nach einen anderen Art von Kino. "Neu" war in den 60ern ein eigener Stil. »Pale Flower« steht zwar in der Tradition eines etablierten Genres, des Yakuza-Films, aber wirkt so, als hätten an manchen Drehtagen versehentlich Antonioni oder Resnais im Regiestuhl Platz genommen. Nach dem Film, sagte Shinoda, war meine Jugend vorbei.

Der Film setzt einen Moment nach dem fürs Genre nachgerade obligatorischen Auftakt ein. Der nicht mehr ganz junge Gangster Muraki (Ryo Ikebe) ist nach drei Jahren Haft aus dem Gefängnis entlassen worden, was mir als eine extrem milde Strafe für einen Auftragsmord erscheint, aber im Film niemanden wundert. In der Off-Erzählung behauptet er eingangs, nichts habe sich verändert, aber während er versucht, seinen alten Platz in der Banden-Hierarchie einzunehmen, wird er eines Besseren belehrt. Neue Allianzen wurden geschmiedet und neue Rivalen sind aufgetaucht, was zunächst noch keine Probleme für den loyalen Muraki aufwirft. Dass es ihn einmal auf eine Entbindungsstation verschlägt (sein Boss wird Vater) ist ein eher vergnügliches Anzeichen für die veränderten Sitten. Es wird schon noch brenzliger werden, das ahnt man. Derweil gerät der stoische Yakuza in den Bann von Saeko, einer jungen Frau, die ihm beim Glücksspiel ins Auge fällt. Sie wirkt unschuldig, ist aber ganz versessen auf Risiko, Sensation, Erregung. Als er ihr Zutritt zu einem Spiel mit höheren Einsätzen verschafft, wird eine folie à deux daraus: rauschhaft, besitzergreifend, keusch, rätselhaft sublimiert. Toll, wie sich das Wettrennen auf der nächtlichen Autobahn auflöst in einem frenetischen Hochgefühl, einer Euphorie, die kein Zurück mehr kennt. Das Tempo, das sie fortan vorlegen, ist halsbrecherisch, aber ihr Weg führt nirgendwo hin. Im blendenden Tageslicht können sie jedenfalls nicht existieren, ihr Drama ist unweigerlich eine Nocturne.

Ryo Ikebe, dessen Karriere sich zu diesem zu diesem Zeitpunkt im freien Fall befand, verleiht Muraki eine authentische Abgeklärtheit. Er bewegt sich ganz wunderbar vor der Kamera, sein Gang ist anmutig und würdevoll. Alles steht im Zeichen der Vergeblichkeit, wie es sich für einen klassischen Film noir gehört. Die Ahnung einer existenziellen Perspektivlosigkeit muss 1964 allerdings ganz modern gewirkt haben, ein Fremdkörper im streng codierten und ritualisierten Genre des Yakuza-eiga. Das wäre der Antonioni-Anteil, den ich aber ebenso wenig überbewerten möchte wie den von Resnais. Shinoda lässt das Geläufige brüsk fremd werden. Die Montage ist rissig, sie fragmentierte die Ereignisse und Emotionen ungeheuerlich; nicht nur zwischen den Bildern, auch innerhalb der schwarzweißen Scope-Tableaus.

Das Sound Design des Films ist unerhört. Die Musik stammt von Toru Takemitsu, der praktisch die gesamte Tonspur für seine Partitur beansprucht. Behände reagiert sie auf lauter suggestive Effekte im Bild und vor allem außerhalb. Sie sucht den Film heim. Für die Glücksspiel-Sequenzen, die zentral für die Handlung sind, aber deren Regeln man allerhöchstens dank der Blicke versteht, haben er und Shinoda zwei Stepptänzer ins Studio geholt. Das Tempo der Gesten und Worte ist ohnehin enorm und wird so noch einmal perkussiv unterfüttert. Es wäre keine schlechte Idee, »Pale Flower« beim zweiten Mal mit geschlossenen Augen zu sehen. In Interviews behauptete Shinoda beharrlich, Muraki stehe für die Orientierungslosigkeit Japans im Kalten Krieg. Das mag so gewesen sein. Klassiker haben ihre Geheimnisse, die sie später nicht mehr so leicht preisgeben.

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