Lieben und Schreiben im Hochmoor

Die wahrscheinlich bizarrste Geschichte über die Familie Bronte hörte ich während meines kurzen Anglistikstudiums. Sie geht so: Die Mutter, ihre drei Töchter und ihr Sohn starben, weil das Grundwasser des Pfarrhauses durch den benachbarten Friedhof verseucht worden war. Reverend Bronte jedoch überlebte sie alle, weil er nur Hochprozentiges trank.

Natürlich gehörte sie nicht zum Curriculum. Sie stammte von einem Kommilitone, der im Seminar meist schwieg, aber in der Mensa zu großer Form auflief. Wir hegten generell gewisse Zweifel an seiner Kennerschaft, Auf die Idee, den Wahrheitsgehalt dieser Anekdote zu überprüfen, kamen wir freilich nicht. Sie hatte eine Moral, die auf unsere leichtfertigen Studentengemüter eine schlichtweg unwiderstehliche Faszination ausübte.

Allerdings beflügelt das Leben der Bronte-Geschwister seit jeher die Phantasie auch sittlich gefestigterer Naturen. Das Geheimnis ihrer Inspiration fordert dazu heraus. Ihre Romane scheinen aus dem Nichts entstanden zu sein: Sie hatten wenig Kontakt zur Außenwelt, wo fand ihre Vorstellungskraft also Nahrung? Ihr reiches Innenleben will ergründet sein; auch um den Preis der Spekulation. Die Verlockung, die Pfarrei in den Hochmooren Yorkshires selbst als eine Domäne der Fiktion zu nehmen, ist verständlich. André Téchiné, der 1979 mit »Die Schwestern Bronte« ein so eigentümliches wie eigenwilliges Biopic vorlegte, fühlte sich dazu nachgerade verpflichtet: "Man darf sich das Erfinden nicht untersagen."

Das mag insofern legitim sein, als Emily, Charlotte und Anne der erstickenden Enge ihres Heims nicht nur ihre großen Romane abtrotzten. Sie waren von Kindesbeinen an damit beschäftigt, Geschichten zu spinnen. Für Téchiné sind sie und ihr Bruder Branwell durch einen Pakt verbunden, den sie ganz früh schlossen. Er begreift sie als einen Körper mit vier Organen, der sich gegen die Welt verschworen hat. Mithin vermute ich, das große Faszinosum dieses Mythos liegt in dem rätselhaften Umschlagspunkt dieser Biographien. Eben waren die Hochmoore noch ihr Abenteuerspielplatz, und schon dienen sie als literarische Szenerie stürmischer Leidenschaften. In »Emily«, der in dieser Woche startet, trägt Frances O'Connor dem Rechnung, indem sie einen Bildungsroman erzählt. Das merkt man nicht auf Anhieb, weil die Darstellerinnen anfangs eine Spur zu alt für ihre Figuren sind. Eine kühne, indes naheliegende Volte schlägt der neue Film, indem er Emilys unverbrüchlicher Verbindung zu Branwell eine inzestuöse Note beimischt. Die Umarmung durch die zum Trocknen ausgehängten Bettlaken hindurch ist herzzerreißend.

Im gleichen Maße, in dem die Romane "Sturmhöhe", "Jane Eyre" und "Agnes Grey" schillern zwischen Lebensausdruck, Flucht und Revolte, laden auch die Biographien ihrer Verfasserinnen regelmäßig zu neuen Lesarten ein. »Devotion«, den Curtis Bernhardt 1942 für Warner Brothers drehte (der Film kam aus diversen Gründen erst 1946 heraus), ist vordergründig ein Eifersuchtsmelodram. Die Rollen sind bereits klar verteilt: Charlotte ist die Ehrgeizige und Engherzige unter den Dreien, Emily die Wilde und Willensstarke (eingangs könnte man sie fast für den Familienvorstand halten), Anne die Unscheinbare und Branwell der Haltlose. Für Unruhe sorgt einer der insgesamt sechs Vikare, die durchs Pfarrhaus gingen. Techiné variiert diese Konstellation ein wenig; insgeheim steht bei ihm Branwell im Fokus, der an der unglücklichen Liebe zu einer verheirateten Nachbarin zerbricht. Seine Schwestern befinden sich demgegenüber eher im Wartestand, sowohl der Herzenserschütterungen wie der literarischen Produktion.

Frances O'Connor verschärft die Rivalität zwischen den Schwestern. Dass Emily "Sturmhöhe" geschrieben und erfolgreich veröffentlicht hat, erfüllt Charlotte in der Rahmenhandlung mit Abscheu und Missgunst. Angeblich hat sie das schwefelhafte Buch nicht gelesen. Anne ist dabei die scherzende Dritte. Charlottes "I hate you!" gegenüber Emily kontert sie mit einem listigen "I see you finished it then!". Der Moment gefällt mir ungemein, weil er die stets übergangene Schwester für einmal ins Recht setzt. Leider findet Annes Agnes Grey“ keine Erwähnung, obwohl er als ein frühes feministisches Manifest gilt. Noch verdrießlicher ist freilich, dass O'Connors Film der Eingängigkeit willen vorgaukelt, "Sturmhöhe" sei unter Emilys Namen und nicht unter männlichem Pseudonym erschienen. Diese Geschichtsverfälschung ist keine Lappalie in Anbetracht der Frauenfeindlichkeit des Viktorianischen Zeitalters. O'Connor erweist ihrem Erzählimpuls der Ermächtigung einen schlechten Dienst, zumal es ihr wichtiger erscheint, dass Emily sich dank des Bucherfolgs endlich Bewunderung und Stolz ihres strengen Vaters verdienen darf. Dabei soll sie eigentlich die Moderne unter den Figuren sein: die, die nicht dazugehört.

Die früheren Bronte-Biopics widmen sich ausführlich dem Problem des Pseudonyms. Da wird in Verlagswelt und Leserschaft eifrig darüber spekuliert, ob die Romane wirklich von Männern geschrieben werden konnten. Die Schwestern befinden sich somit nicht nur im Konflikt mit der Enge ihrer Welt, sondern ihrer Epoche. Mit der Chronologie ihrer Buchveröffentlichungen nimmt es übrigens keiner der Filme genau. Diese sind vielmehr ein flexibles Indiz ihrer jeweiligen Entschlossenheit. Am stärksten drängt „Devotion“ darauf, dass aus dem Erleben endlich Literatur wird, legt lauter Spuren aus zu den Motiven und Bildern, die in den Roman auftauchen. Damit sollte der Film gewiss an den sagenhaften Erfolg anknüpfen, den einige Jahre zuvor William Wylers Adaption von "Sturmhöhe" erzielte.

Über die merkwürdige Zurückhaltung, "Emily" in dieser Hinsicht walten lässt, habe ich bereits in meiner Kritik im Novemberheft geschrieben. Einen unbestreitbaren Vorzug von O'Connors Version vernachlässige ich in der Rezension leider: Sie ist an den Originalschauplätzen in West Yorkshire gedreht. Das allein bürgt noch nicht für Authentizität. Aber O' Connor mobilisiert die Dramatik der Landschaft. Sie spielt expressiv mit. Bei Téchiné tut sie es nicht. Er filmt sie als Stillleben, ruft ihr Ungestüm nicht auf: Er steht neben ihr (ebenso, wie er neben der Epoche steht). Das muss überraschen bei einem Regisseur, der ein Meister der atmosphärischen Einstellung ist. Aber ihm und seinen Co-Autoren Pascal Bonitzer sowie Jean Gruault geht es um etwas anderes: Ihr Film reflektiert das Wesen des Melodrams. Sie nehmen dessen Regelwerk auseinander, ohne es komplett wieder zusammenzusetzen. Das Spiel der Darsteller wirkt ungemein stilisiert.

Curtis Bernhardts Film müsste in dieser Gleichung der Part des konventionellen Melo zufallen: Er ist komplett im Studio entstanden. Die stickige Szenerie baut sich als Hürde vor heutigen Sehgewohnheiten auf. Kein Hochmoor weit und breit, aber geliebt und geschrieben wird ausgiebig. Die Schauspieler und Dialoge arbeiten eifrig daran, die Hürde zu überwinden. "A lonely place, ugly, made for strange, unyielding people", heißt es einmal. Ich glaube, 1946 wird das Publikum gespürt haben, wie fest geschlossen der Pakt ist zwischen den Figuren und der Landschaft, in der die Geister der Inspiration leben.

 

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