Xavier & Xavier

Zwölf Jahre später tötet er seine Mutter immer noch. Auch die Besetzung der Rollen hat sich nicht verändert. Noch immer macht er fast alles selbst, Buch, Regie, Schnitt, Kostüme, Co-Produktion, und spielt mit. Das Kino ist für Xavier Dolan nach wie vor eine Wunderkammer und er hält daran fest, auf Kodak-Material zu drehen (siehe "Postume Dankbarkeit" von 6.8.14).

Es musste sich viel ändern, damit das so bleiben konnte. Zwischendurch hat er versucht, das französische Kino zu erobern (mit Erfolg) und danach das US-Kino (ein epochaler Schiffbruch, nach allem, was man hört - »The Life and Death of John F. Donovan« kam nur in Frankreich heraus). Mit »Matthias & Maxime«, der seit gestern in den Kinos läuft, kehrt er nun zu seinen Wurzeln in Québec zurück. In seiner Kritik, die in epd Film zum geplanten Start im letzten Oktober erschien, beschreibt Matthis Raabe diese Bewegung sehr genau. Für ihn ist es ein generischer Dolan-Film, der die eigenen Markenzeichen bedient. Ich bin anderer Ansicht: Zu seinen Wurzeln kehrt man nur unter anderen Vorzeichen zurück.

Dolan hat sein Blickfeld erweitert. In dem Montréal seines neuen Films (der schon zwei Jahre alt ist, weshalb das erste Wort dieses Eintrags strenggenommen hätte "zehn" sein müssen) findet er größere soziale Gegensätze wieder. Seine Titelhelden gehören unterschiedlichen Schichten an. Auch der Kreis der Freunde, der nicht im Erwachsenenleben ankommen will, setzt sich aus diversen Milieus zusammen. Wie Dolan ihn in Szene setzt, hat ungeheure Verve. Die anderen sind nur skizziert, aber doch prägnant – ein Bandenphänomen, wie es mich unlängst bei Vinterberg beschäftigte. Deren weibliche Satelliten bleiben im Hintergrund, besitzen aber hinreichend Temperament. Von Maximes Kollegin, der Kellnerin, hätte ich gern mehr gesehen. Andererseits hütet sie das Geheimnis ihrer Gefühle reizvoll. Die Mütter (Väter gibt es bei ihm ja nicht) sind allesamt grandios. Sie führen noch so muntere Koseworte wie "Mäuschen" und "Knirps" im Mund. Anne Dorval ist eine Klasse für sich in ihrer nonchalanten Verwahrlosung. Micheline Bernard fand ich als Matthias' Mutter schon patent, bevor sie Zigarre raucht. Auch die Quasselstrippen im Hause Rivette sind unwiderstehlich.

So ist der Narzissmus, den man Dolan gern als Actor-Director nachsagt, in ein vitales, aufgekratztes Umfeld gestellt. Er kommt eigentlich kaum zum Tragen, wenn man von dem gorbatschowhaften Feuermal auf seiner Wange absieht. Tatsächlich interessiert er sich stärker für Matthias (Gabriel d'Almeida Freitas). Der hat ebenso viele Baustellen in seinem Leben wie Maxime. Aber als Figur ist er Dolan fremder. Er fordert seine Neugier heraus. Nicht, dass er selbst Maxime per Autopilot spielen würde. Die Alliteration seines Titels nimmt der Film schon ernst. Ich fand die Fensterblicke, in die er die Zwei einbindet, brillant- besonders den ersten, der sie aus der Ferne beim Geschirrspülen zeigt.

Ein Wunderkind kann Dolan mit inzwischen 32 Jahren nicht mehr sein. Er hätte sich auf dem Weg auch verlieren können. Rar macht er sich ja nicht, ist als Synchronsprecher und Darsteller unablässig beschäftigt. In Venedig wird er in Xavier Giannolis Adaption von Balzacs »Verlorene Illusionen« zu sehen sein. Der Roman ist ein Schlüsselbuch über das Ende der Jugend ("Noch rangen sie mit sich selbst und noch nicht mit der Welt.") und die Verfilmung womöglich ein spannendes Gegenstück zu Dolans jüngsten Regiearbeit.

Sein bisheriger Werdegang stellt auf ganz einzigartige Weise die Frage nach dem Elan (und wie ein Filmemacher sich ihn erhält). Bislang war »Laurence Anyways« von 2012 mein Favorit unter seinen Filmen. Aber ich zögere, ihn als den Höhepunkt seiner Karriere zu betrachten. Gestern hörte ich noch einmal in ein Interview herein, das ich mit Melvil Poupaud führte, der dort die Hauptrolle spielt. Ich zitiere ein wenig daraus. "Das war ein großes Glück, denn Xavier befand sich auf dem Gipfel seiner Form", meinte er. Der Film war für ihn ein Scharnier zwischen Lehrzeit und Meisterschaft: "Er hat noch den Zauber von Entdecken und Freiheit, aber zugleich war Xavier beim Drehen ganz konzentriert, ganz präzise, vollkommen professionell." Die Dreharbeiten verliefen in einer Atmosphäre unermüdlicher Euphorie. Poupaud erlebte seinen Regisseur in einem „Zustand der Gnade“. Der stellt sich nicht ständig her. Aber Dolan hat seither nicht aufgehört, großartige Filme zu drehen, namentlich »Mommy«. Der Höhepunkt kann noch ausstehen. »Matthias & Maxime« ermutigt darin, denn er strahlt den Elan eines zweiten Debütfilms aus.

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