Wütende Sehnsucht

Sie werden gewiss von dem Berliner Pilotprojekt gehört haben, das am letzten Wochenende begann. Wenn ich die Berichterstattung über diese probeweise Öffnung von Kulturveranstaltungen unter strengsten hygienischen Bedingungen recht interpretiere, war das Ganze ein voller Erfolg. Die Stimmung muss bestens gewesen sein. Künstlerische Darbietungen gab es auch.

Über deren Güte konnte man bisher nicht ganz so viel in Erfahrung bringen. Ob die Inszenierung von »Panikherz« am Berliner Ensemble etwas taugt, tat wenig zur Sache. Immerhin soll Kirill Petrenko die Philharmoniker mit verblüffend geringem Pathos durch sein Tschaikowsky- und Rachmaninow-Programm geführt haben. An diesen Abenden ging es offensichtlich um etwas anderes: Der Schauplatz selbst war die Botschaft, die Organisation das Ereignis und die Anwesenheit schon Kunstgenuss genug. Lassen Sie sich durch den mokanten Ton meines Einstiegs nicht täuschen (beim vorangegangen Eintrag habe ich den gleichen Fehler begangen): Ich kann die Begeisterung darüber verstehen, den physischen Ort wieder in Besitz zu nehmen. Nach fünf Monaten Shutdown und digitaler Simulation haben sich die Prioritäten vorerst geändert. Das Bedürfnis war mächtig: Die oben genannten Veranstaltungen waren nach drei respektive vier Minuten ausverkauft.

Mir ist vor ein paar Tagen ein ähnlicher Lapsus unterlaufen, als ich über die diesjährige César-Verleihung schrieb. Erst kurz vor Ende des Artikels fiel mir auf, dass ich bis dahin nur einen Filmtitel genannt und kein Wort über Vernunft oder Torheit der jeweiligen Preisvergaben verloren hatte. (Das holte ich im letzten Absatz nach, den der Redakteur mir dann prompt herausstrich– zu Recht, denn er passte nicht in den Text.) Das Ereignis dieses Abends war ein atmosphärisches: Es herrschte eine zornige Sehnsucht, endlich wieder ein Kino von innen sehen zu dürfen. Die französische Filmfamilie, die sich im Pariser Olympia coronabedingt ausgedünnt versammelte, berauschte sich geradezu an ihr. Dies Verlangen war aus praktisch allen Moderationen und Dankesreden herauszuhören, klang irgendwann nur noch nach narzisstischer Kränkung. Das physische Stattfinden der Verleihung war an sich schon eine militante Geste, ein erbitterter Protest gegen die Kulturpolitik der Macron Regierung. Er traf vor allem die aktuelle Kulturministerin Roselyne Bachelot, von der sich die Branche verraten fühlte. Obwohl das als depressives Schauspiel enorme Wucht hatte, tat sie sich damit keinen Gefallen. Die Einschaltquoten waren die niedrigaten seit zehn Jahren. Je mehr ich über das Fest nachdenke, desto mehr erscheint es mir als ein Fiasko. Die exception culturelle, auf die sich der dortige Kulturbetrieb beruft, verwehrt zuweilen gefährlich den Blick über den eigenen Tellerrand hinaus.

Hoffentlich zieht die Filmakademie ihre Konsequenzen daraus, sie ist seit dem letzten Jahr schließlich Neuausrichtungen gewohnt. Allerdings ging die verunglückte Feier einher mit einigen mutigen Initiativen. Am Wochenende darauf öffneten 20 Kinos im gesamten Land (kurioserweise mit Ausnahme von Paris), unterstützt von einer Petition, die zu diesem Zeitpunkt bereits über 100 FilmkünstlerInnen (darunter Mathieu Amalric, Xavier Beauvois, Juliette Binoche und Alain Guiraudie) unterzeichnet hatten. Wie dies Vorhaben umgesetzt wurde und welche Reaktionen es hervorrief (etwa von Politik oder Behörden), war in der überregionalen Presse nicht zu erfahren. Auch in diesem Fall besaß das Stattfinden schon Nachrichtenwert genug. Am letzten Mittwoch, dem in Frankreich traditionellen Starttag, jedoch öffnete das Kino "Francois Truffaut" im Pariser Vorort Chilly-Mazarin bis 19 Uhr seine Pforten: Ausgangssperre oblige. Die Betreiber und Freunde des Kinos besetzten es einfach. Wie "Libération" berichtete, war das Programm war anspruchsvoll gemischt und der Zuspruch groß. Der Eintritt war frei, da sich einige Verleiher solidarisch zeigten, aber das Gegenteil hätte die Ausgehungerten wohl auch nicht abgeschreckt. Ein paar Neugierige kamen nur, um zu überprüfen, ob das Gerücht denn auch stimmte, das durch den 20000-Seelen-Ort ging. Die meisten blieben. Und obwohl die fünf Angestellten das Kino auch in der Nacht okkupierten, schritt die Polizei nicht ein. Kein Pilotprojekt, aber ein Zeichen, das gesetzt und verstanden wurde.

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