Sonne und Mond

Francois Truffaut konnte gar nichts mit ihm anfangen. Angeblich verließ er nach der ersten Hälfte die Vorstellung von Satyajit Rays Debütfilm »Apus Weg ins Leben«. Er fand seinen Stil zu präzise und minutiös. Welch verblüffender Vorwurf!

Das kann nur ein trauriges Missverstehen gewesen sein. Immerhin hatten beide Filmemacher viel gemeinsam. Sie suchten eine zärtliche Nähe zu ihren Figuren und waren glühende Bewunderer ihres erklärten Vorbildes Jean Renoir. Die Begegnung mit Renoir, der Ende der 40er Jahre in Indien »Der Fluss«  drehte, war dann auch einer der entscheidenden Impulse für Ray, Regisseur zu werden. Vielleicht konnte Truffaut ihn nicht gelten lassen, weil er mit seiner Apu-Trilogie dem eigenen filmischen Lebensroman von Antoine Doinel zuvorgekommen war?

Sie merken schon, dass dies nicht die nächsten Staffel meiner Berlin-Erkundungen ist. Die kommt, ich habe die Reihenfolge nur aus unaktuellem Anlass umgestellt. Vielmehr, auch das werden Sie längst ahnen, knüpft dieser Eintrag an »Der erweiterte Horizont« an. Ray wurde heute vor 100 Jahren in Kalkutta geboren. Gedenktexte wie dieser sind inzwischen heikel geworden. Die Redakteurin einer Tageszeitung jedenfalls lehnt seit kurzem solche Angebote bedauernd ab, weil sie gemerkt hätten, dass diese einfach nicht mehr funktionieren. Was auch immer man sich darunter vorstellen muss, nehme ich ihr Bedauern mal sportlich, denn es wirft die Frage auf, was wir heute mit einem Klassiker anfangen.

Jahrzehnte lang Ray als der größte Regisseur Indiens. Womöglich ist der Glanz der vielen Hauptpreise, die er in Cannes, Berlin, Venedig und anderswo erhielt, in der Tat verblasst. Und wer erinnert sich noch an die Videobotschaft des kranken Regisseurs, der 1991, ein Jahr vor seinem Tod, den Ehrenoscar für sein Lebenswerk nicht mehr persönlich in Empfang nehmen konnte? In seiner Heimat wird er jedoch – sofern die Pandemie das zulässt - das ganze Jahr über mit physischen Ausstellungen und Retrospektiven gefeiert. Gerade wurde eine Fortsetzung seiner Apu-Trilogie abgedreht sowie ein Biopic über seinen bevorzugten Darsteller Soumitra Chatterjee, mit dem er 14 Filme drehte. Der Schauspieler, der im letzten Jahr an Covid-19 erkrankte und starb, tritt noch selbst auf. Satyajits Sohn Sandip fährt fort, die Romane des Vaters zu verfilmen; gleich zwei Franchises zeichnen sich ab nach seinen Feluda- und Professor Shonku-Reihen. Die Regierung hat einen Preis nach ihm benannt, mit dem das Lebenswerk anderer gewürdigt werden soll.

Ray wirft noch immer einen langen Schatten. Aber in und neben dessen Wurf ist viel Platz. Der Blick auf die Kinematografien des Subkontinents hat sich erweitert, aber vielleicht auch verkürzt. Die hiesige Bollywood-Begeisterung scheint einigermaßen abgeflaut. Es steckte wohl auch viel Ironie in ihr. Dafür konnte man beispielsweise bei Retrospektiven in Wien und Berlin seinen Zeitgenossen Ritwik Ghatak kennenlernen, der das Trauma der Teilung Indiens im Jahr 1947 schonungsloser verarbeitete und in dessen Werk die nationale Zerrissenheit sich mit einer biographischen verknüpft; sein kurzes Leben war geprägt von Depressionen und Trunksucht. Ray erscheint demgegenüber als die ungebrochenere Figur.

Selbst die Begriffe haben Staub angesetzt, die einem in den Sinn kommen, wenn man sein Werk beschreiben will. Als Humanist wurde er gefeiert, eine Kategorie, die mittlerweile fast nichtssagend klingt. Aber für Rays Filme besitzt sie noch Gültigkeit. Die Großzügigkeit, mit der er selbst schäbige, zwielichtige Figuren zeichnete und ihnen ein reiches Innenleben gewährte, hat ihm zuweilen den Vorwurf zu großer Nachsicht eingetragen. In menschlichem Scheitern und Irrtümern konnte er stets noch Würde entdecken. Mit feinen Pinselstrichen führte er seine Charakterporträts aus, mit einem unfehlbaren Gespür für Nuancen.

Das Filmemachen hat Ray als einen andauernden Prozess der Selbsterziehung empfunden, bei dem ihm jede einzelne Phase gleichermaßen wichtig und beglückend erschien. Seine Familie gehörte dem gehobenen bengalischen Bürgertum an. Der Vater war Schriftsteller, Maler und Fotograf. Satyajit studierte erst Wirtschaftswissenschaften, wechselte jedoch bald zur Malerei. Er fing als Grafiker in der Werbebranche an. Auf einer Reise nach London entdeckte er Vittorio de Sicas »Fahrraddiebe« und geriet in den Bann des Neorealismus'. Er sollte deutliche Spuren nicht nur in seinem Frühwerk hinterlassen. Mit dem ersten Teil der "Apu"-Trilogie wurde er 1956 schlagartig weltweit bekannt. In dieser Chronik des Heranwachsens eines Jungen, der seine ländliche Herkunft hinter sich lässt, um in der Großstadt Schriftsteller zu werden, spannt Ray bereits einen erzählerischen Bogen, der sich auf sein späteres Werk übertragen lässt. Die visuelle und dramaturgische Bewegung des Films ist die einer Öffnung zur Welt. Es dauert lange, bis die Kamera zum ersten Mal die Enge des Elternhauses und des Hofes verlässt, um sich die Weite einer Landschaftstotalen zu erobern.

Die bekannteste Einstellung aus Rays Filmen ist gewiss die Großaufnahme des jungen Apu, der, hinter einer Mauer versteckt, seine Umwelt mit großen, wachsamen Augen aufsaugt. Der enge Familienzusammenhalt, von dem er sich auf schmerzliche Weise lösen muss, findet sich später auch in »Mahanagar«: Der Wunsch der Ehefrau, einen eigenen Beruf zu ergreifen, wird von ihren Angehörigen anfangs als Zurücksetzung, als Ehrverlust begriffen. Die lyrische Qualität seiner frühen Filme, in denen die Natur regelmäßig zu einem Resonanzraum der Gefühle wird, bewahrt sich Ray auch für das Terrain der Großstadt. In flüchtigen Alltagsimpressionen, dem Zirkulieren der Requisiten und Blicke, weiß er die Hoffnungen und Blessuren seiner Figuren aufgehoben. Die Kritik, er würde sich zu sehr auf intime Familiensujets beschränken, parierte Ray in den 60er und 70er Jahren mit einer Reihe von Filmen, die die Widersprüche des eigenes Landes verhandelten, das Kastensystem, die politische Spaltung nach dem Tod Nehrus. Seine klare Bildsprache wird komplexer, die Montage raffinierter, seine Wahrnehmung der sozialen Realität verdüstert sich. Also auch dies eine Geschichte des Zugewinns.

Man muss keine Angst vor den Titanen des Kinos haben, nicht einmal Ehrfurcht. Aber oft darf man ihnen trauen. "Das Kino von Ray nicht gesehen zu haben," sagte sein Kollege Akira Kurosawa, !heißt, in der Welt zu sein, ohne die Sonne oder den Mond zu sehen." Mit dieser hochkarätigen, ja kosmischen Empfehlung  ermutige ich Sie, den Klassiker durch den Blick auf die Filme auf den Prüfstand zu stellen und damit zurückzuerobern. Wie wenige habe ich in meinem Text erwähnt! Auf den cinéphilen Plattformen gibt es vielleicht einige. In Großbritannien haben Labels wie Artificial Eye und die Criterion Collection einen Teil seines Werks auf DVD und Blu-ray erschlossen. Berliner können von dem hervorragenden Sortiment der öffentlichen Bibliotheken profitieren.

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