Leselust - Mit einem Bein in der Realität

In der letzten Woche rief mich ein befreundeter Redakteur an und schwärmte, wie großartig Cannes in diesem Jahr gewesen sei. Ausführlich berichtete er von den hervorragenden Filmen, die er gesehen hatte, und der Stimmung, die dort herrschte. Als ich auf seine höfliche Gegenfrage, was denn daheim so passiert sei, mit dem Hinweis auf die Flutkatastrophe antwortete, reagierte er verdutzt: Nichts davon gehört!

Obwohl mein Freund von Berufs wegen (Redakteur einer Tageszeitung) und seinem Wesen nach (wissensdurstig) eigentlich stets auf dem Laufenden ist, war im das Erschrecken über die „Jahrhundertflut“ entgangen. Er hatte währenddessen in der berühmten Cannes-Blase gesteckt, die deren jetziger Präsident Pierre Lescure einmal eine schwebende Zeit genannt hat, die sich wie eine Parenthese in die Realität schiebt. Man schaut allenfalls in die Branchenblätter, denn das Zentrum der Welt befindet sich aktuell ja gerade an der Croisette. Dabei würde mein Redakteur mir gewiss zustimmen, dass die Gegenwart stets Anspruch auf Aufmerksamkeit erhebt; zumal, wenn sie bewegt ist.

Welche Verpflichtung die Zeitgenossenschaft darstellen kann, wird besonders klar, wenn man an historische Daten denkt, die für Paradigmenwechsel stehen, also beispielsweise 1789, 1848 oder 1914. Wenn die Welt in Flammen steht, erscheinen Unwissen und Abseitsstehen als sträflich. Aus der Zeit selbst heraus betrachtet, sieht das häufig anders aus. William Boyds neuer Roman „Trio“ handelt von drei Charakteren, die 1968 beinahe verpassen. Ihre Entschuldigung ist, dass sie alle mehr oder weniger an den Dreharbeiten eines Films im englischen Seebad Brighton beteiligt sind. Boyd lässt sie natürlich nicht gelten. Wie absurd diese Weltvergessenheit ist, macht schon der Titel der Produktion deutlich, die ihre Aufmerksamkeit bindet: „Emily Bracegirdles außerordentlich hilfreiche Leiter zum Mond“. (Solch hirnrissige Titel gab es damals wirklich, man denke nur an „an Hieronymus Merkin ever forget Mercy Humppe and find true happiness?“) Aber andererseits war die britische Filmbranche immer schon eine kleine Welt für sich, die sich in Soho um die Wardour Street konzentrierte. Der Romancier kennt sich in ihr aus, hat selbst eine ganze Reihe von Drehbüchern geschrieben, wenngleich lange nach dem Abflauen der Swinging Sixties, in denen sein Buch spielt. Ich kenne es nur im Original, aber mein Gewährsmann beim „Bücherbogen“ versicherte mir, die im Kampa Verlag erschienene Übersetzung sei sehr gut. Leider hat diese Ausgabe ein anderes Umschlagmotiv als das stimmungsvolle Triptychon des Fotografen Elliott Erwitt, welches das Original ziert; wohl eine Rechtefrage.

Das Titel stiftende Trio besteht aus dem Produzenten Talbot Kydd, dem amerikanischen Filmstar Anna Viklund und der Schriftstellerin Erlfrida Wing, die mit dem Regisseur verheiratet ist. Alle drei sind zerrissen zwischen der öffentlichen Rolle, die sie spielen müssen, und ihrer privaten Identität. Elfrida leidet seit zehn Jahren an einer Schreibblockade und hat sich in eine einfallsreiche Alkoholikerin verwandelt. Talbot ringt noch damit, sich seine Homosexualität einzugestehen. Anny wiederum wird von ihrer Vergangenheit in Gestalt ihres geschiedenen Mannes eingeholt, der von CIA und FBI wegen eines Terroranschlags gejagt wird. Zwei der Protagonisten haben sehr wohl Teil an den gesellschaftlichen Umbrüchen der Zeit. Ein Jahr nach Verabschiedung des „Sexual offences Act“ könnte der Produzent seine sexuelle Orientierung ohne Angst vor Strafverfolgung ausleben. In der Figur der Anna vermischt Boyd mehre Elemente aus der Biographie Jean Sebergs, etwa ihre Beziehung zu den Black Panthers und die Ehe mit Romain Gary, der hier Jacques Soldat heißt. Mit ihm weht auch der Pariser Mai 68 in den Roman hinein. Ich war bisher der Ansicht, es gebe schon genug Filme und Bücher über Seberg (siehe Eintrag vom 10. 8. 2015 https://www.epd-film.de/blogs/autorenblogs/2015/leselust-das-boese-wort-talent), aber Boyd fügt neue Aspekte hinzu, namentlich das Motiv des Post-Kolonialismus.

Boyds Romane sind eigentlich viel zu spannend, um hier zu Lande als seriöse Literatur gelten zu dürfen. Mit Elfridas Virginia-Woolf- Faszination dürfte er strenge Kritiker ein Stück weit entwaffnen. „Trio“ ist ein für ihn typischer, enorm handlungsgetriebener page-turner, der eindeutig von seinen Erfahrungen als Drehbuchautor profitiert. Er ist als Parallelmontage angelegt, die behände zwischen den drei Perspektiven wechselt, um schließlich zwei von ihnen unmittelbar zusammenzuführen. Also eine Folge von Häppchen, die Appetit machen und am Ende satt: die Figuren sind hinreichend prägnant und lebhaft porträtiert, während sich beiläufig ein Stimmungsbild einer Zeit verdichtet, die im Fluss ist. Die Dreharbeiten verlaufen entsprechend unvorhersehbar und konfliktreich. Talbot ist ein ruhiger Pol in diesen Aufwallungen, eine Figur zwischen Tradition und neuer Sinnsuche. Er fungiert als eine Stimme der Vernunft in einer Industrie, die zumal aus britischer Sicht verrückt und exzentrisch erscheint. „I don't understand cinema“, sagt ein Buchhalter zu ihm, der an der Budgetaufstellung des Films verzweifelt. „That's why your such a good film accountant“ beruhigt er ihn vergnügt. Ein hübscher running gag ist Talbot Irritation darüber, dass aus sämtlichen Transistor- und Autoradios „Mac Arthur Park“ schallt, auf dessen Text er sich keinen Reim machen kann.

„Trio“ ist bereits Boyds zweite Innenansicht der Filmbranche. „Die neuen Bekenntnisse“ von 1988 war ein angemessen monumentaler Entwurf, der von der Jahrzehnte dauernden Anstrengung eines genialischen Regisseurs handelt, Rousseau zu verfilmen. Der neue Roman kommt leichter daher, entspannter gar. Darin bildet er ein prächtiges Pendant zu „Eureka“ von Anthony Quinn (nein, nicht der Schauspieler, sondern der ehemalige Filmkritiker des „Independent“, der inzwischen ein erfolgreicher Romancier geworden ist). Er ist bereits vor vier Jahren erschienen, eine deutsche Übersetzung liegt jedoch nicht vor. Auch in ihm vibrieren die Swinging Sixties noch heftig in London. Auch er steht mit einem Bein in der Realität, spielt auf historische Ereignisse an wie den Skandal um John Gielgud, einige Charaktere sind Schlüsselfiguren: eine Schauspielerkarriere erinnert eindeutig an die von Michael Caine, der Drehbuchautor trägt Züge von Frederic Raphael etc. Ein Regie-Wunderkind namens Reiner Werther Kloss tritt auf (diese Briten haben einen Heidenspaß daran, sprechende Namen zu erfinden), der sich auch im Wortsinne als Brandstifter entpuppt. Einen leichten Drall zum Krimi-Genre gibt es auch bei Boyd. Die wesentliche Verwandtschaft der zwei Romane besteht darin, dass Quinn ebenfalls mehrere Blickwinkel wählt. Sie verändern einerseits die Wahrnehmung der Charaktere und lassen ihnen lange genug ihr Geheimnis. Zugleich ist das multiperspektivische Erzählen für Briten vielleicht die triftige Herangehensweise, um sich ein Bild zu machen von einer Industrie, die ihnen fremd und exotisch erscheint und deren Funktionieren sie nach wie vor erstaunt.

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