Keine voreiligen Schlüsse

Ein Maigret, der weint? Wann hätte es das danach je gegeben? Davor schon gar nicht, denn „Um eines Mannes Kopf“ von 1933 ist erst die dritte Georges-Simenon-Verfilmung. Ich kannte Julien Duviviers Film bisher nur auszugsweise. Noch eine Lücke, die geschlossen ist. Und wieder viel mehr als das.

Wer dieses Meisterwerk entdecken will, muss sich allerdings ranhalten: Er ist leider nur noch bis morgen (7. 2. ) in der Mediathek von arte abrufbar. Andererseits ein passendes Schicksal für einen Film, in dem es kein Morgen gibt. Am Montag lief er im Mitternachtsprogramm, wo sonst die Stummfilme versteckt werden, aber ich konnte ihn erst gestern sehen. Hätte ich gewusst, wie schnell die Uhr tickt - was wiederum nicht zum Kommissar passt, der erstaunlich, ja fahrlässig geduldig ist. Maigret (Harry Baur) lässt den ersten Verdächtigen entkommen und hält danach den Mörder an einer langen Leine. Ersteres ist kein dummer Schachzug, denn er ist sicher, dass Heurtin, der Hüne und arme Tropf, ihn auf die Spur des wahren Schuldigen führen wird. Den will der Kommissar zuerst kennenlernen und verstehen, bevor er ihn überführt. Ein Raubmord aus Sozialneid, der überraschende Volten schlägt: So nah kam Simenon Dostojewski nie mehr.

„Sie riskieren Ihre Stellung“, warnt der ignorante Untersuchungsrichter den Kommissar „Wir riskieren den Kopf eines Mannes“, erwidert Maigret. Im Verlauf der Ermittlungen wird ein tragischer Plural daraus. Anfangs kann sich Maigret noch auf die Findigkeit seiner Untergebenen verlassen. Die durchschauen sofort, dass am Tatort falsche Spuren ausgelegt wurden. Eine reiche Amerikanerin wurde in Versailles ermordet. Ihr Neffe, der über seine Verhältnisse lebt, gerät erst einmal nicht in den Fokus der Ermittlungen. Der kann warten, hat später denkwürdige Auftritte. Vorerst verfolgen die Beamten der Pariser police judiciare der Fährte der Gummischuhe, deren Abdruck im Blut die Marke verrät. Von Größe 46 wurde nur ein einziges Paar verkauft. Die Schlinge scheint sich zuzuziehen um Heurtin. Im Eden, der Kneipe, wo die Stammgäste anschreiben können (aber nicht endlos) und die ein Wartezimmer der unentdeckten Liebe ist, stellt sich dem Kommissar plötzlich ein ganz anderes Bild dar. Von nun an führt der Mörder Regie. Valéry Inkijnoff, der in Sibirien geboren wurde, bei Meyerhold lernte und dann eine staunenswerte Karriere im europäischen Kino machte (Sie kennen ihn womöglich aus Fritz Langs Indien-Zweiteiler), ist einer der schillernden Schurken der Filmgeschichte.

Mit „Maigret – Um eines Mannes Kopf" (La Tete d'un homme) setzt der Sender seinen Bemühungen (siehe „Die Rücksichtslosigkeit des Schicksals“ vom 10.10. 2016) fort, den verkannten Duvivier zu rehabilitieren. Das ist hier zu Lande noch immer nötig, wenn ich nur an die unlängst in der „taz“ erschienene Kritik der deutschen DVD seines Spätwerks „Deckname: Marie-Octobre“ denke. Das gönnerhafte Erstaunen, dass der ja gar nicht mal so schlecht sei, schürt bei dem Rezensenten dennoch keine Neugier auf das Davor und Danach im Werk Duviviers. Manche von uns wären vielleicht besser Untersuchungsrichter geworden.

Der Tonfilm hat sich gerade erst seit drei, vier Jahren durchgesetzt, als Duvivier schon all seine Register zieht. Wie agil die Kamera die Studioszenerien und Realschauplätze durchmisst, wie zielstrebig und ungebunden, in welch frenetischem Tempo beim Finale! Die Montage ist passagenweise rasant (die Folge der Szenen, in denen Polizisten Passanten nach ihrem Ausweis fragen), und in einer Sequenz genial: Der Ermittler muss sich nicht von der Stelle bewegen, als er in mehreren Geschäften nach dem Käufer der Gummischuhe fragt, weil diese sich als Rückprojektion vor den Augen des Publikums abwechseln. Aus den Dialogen klingt die Familiarität des Milieus: Die Polizisten duzen alle Welt, mit der Herablassung von Autoritätspersonen; bei Baurs Maigret kommt Mitgefühl hinzu. Der Mörder duzt ihn zurück. Die Moritaten der Straßensängerinnen schließlich, die versichern, sie hätten ihr Schicksal gelebt, dringen tief in die Dekors hinein – nicht nur, um Atmosphäre zu schaffen, sondern um diese zu kommentieren.

PS: Apropos Kommentar. Olivier Père, der Direktor der Kinoabteilung von Arte France, führt einen eminent cinéphilen Blog auf der Seite des Senders, wo er auch über Duviviers Film geschrieben hat. Gestern Nachmittag antwortete er auf meine Frage, warum „Um eines Mannes Kopf“ morgen wieder aus dem Replay (so nennt man in Frankreich neuerdings die Mediatheken) verschwindet. Die audiovisuellen Rechte, schreibt er, liegen bei TF1 Studio, die maximal ieben Tage erlauben. Die Verfügbarkeit in der Mediathek variiert, fährt er fort, manchmal gibt es gar keine, sie muss stets mit den jeweiligen Partnern ausgehandelt werden. Aber die Dinge entwickeln sich, versichert er.

 

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