Im Rausch der Selbstentlarvung

Sind sie im Augenblick wirklich so verzweifelt im Konrad-Adenauer-Haus? Muss man sich die Geschäftsstelle der CDU momentan als einen Zufluchtsort der Getriebenen vorstellen? Gewiss, die aktuellen Umfragen stellen einen bisher unvorstellbaren Verlust an Wählerbindung, Bedeutung und Macht in Aussicht. Und die Union hätte sich einen schlechteren Regisseur als Martin Scorsese für ihr Motivationsvídeo aussuchen können. Aber ein verurteilter Straftäter als Leistern?

Genug viralen Spott hat der inzwischen auf Twitter gelöschte, aber immer noch auffindbare (beispielsweise hier: https://www.fr.de/politik/bundestagswahl-2021-cdu-hollywood-video-aktienbetrueger-jordan-belfort-twitter-kritik-spott-hohn-zr-90977602.html) Mitschnitt der Beschwörungsorgie ja ausgelöst. Aber sie verdient eine eingehendere Deutung. In der Parteizentrale lief ja nicht der idyllische Werbespot von Stratton Oakmont, der zu Beginn von „The Wolf of Wall Street“ das Investmentunternehmen als seriösen Treuhänder der Stabilität präsentiert. Stattdessen war zu sehen, wie der unerbittliche Charismatiker Jordan Belfort sein Broker-Fußvolk auf den totalen Erfolg einschwört. Leonardo di Caprio liegt so etwas. Aber legt die Partei damit die Messlatte nicht doch ein wenig zu hoch für ihren Kanzlerkandidaten? Für einen Moment schien es, als sei die Geschäftsstelle vom Tiergarten in ein Paralleluniversum gebeamt worden.

An wen richtete sich diese Botschaft der Frenesie? Ralf Brinkhaus oder Peter Altmaier mag man sich schwerlich im Publikum vorstellen; Paul Ziemiak müsste derlei glühende Rhetorik wohl mit einiger Verlegenheit betrachten. Ein Friedrich Merz hingegen, wenngleich old school, könnte mit Belforts Apologie der Gier eine Menge anfangen. Auch Philipp Amthor wäre in seinem Element. Er sieht zwar noch immer aus wie ein unbedarfter Abiturient, hat sich aber seine Sporen als Lobbyist längst verdient. Die Altersgruppe stimmt jedenfalls. In diesem Wählersegment ist Luft nach oben. Womöglich also ein beherzter Versuch, Rezo dieses Feld nicht mehr kampflos zu überlassen.

Es weckt bei mir immer zwiespältige Gefühle, wenn Filme als Lehrmaterial vereinnahmt werden. Ihre Instrumentalisierung beunruhigt und empört mich, erfüllt mich aber zugleich mit einer gewissen Genugtuung: So mitreißende Kraft besitzen eben nur Filmbilder. Es gibt berühmte Beispiele für ihre Wirkungsmacht. Raoul Walsh erzählte in Interviews gern und nicht ohne Stolz, dass „Der Held von Burma“ von der Haganah, der israelischen Geheimarmee in Palästina, als Trainingsfilm benutzt wurde. „Der Kommandant“ mit Gregory Peck diente in den 1950ern als Anschauungsmaterial für Militär und Unternehmen, wie man Krisensituationen bewältigt. Nach dem 11. September war „Schlacht um Algier“ plötzlich der Film der Stunde. Im Pentagon wurde er sorgfältig analysiert als Lehrstück, wie man gegen Terroristen Krieg führt. Zwar ergreift er unmissverständlich Partei für den antikolonialistischen Kampf. Aber als Studie von Strategie und Gegenstrategie war er in diesem Moment auch für die Gegenseite ergiebig.

All diesen Beispielen ist gemeinsam, dass sie auf Sieg und Vernichtung zielen. Nichts anderes hat der später wegen Betrugs und Börsenmanipulationen verurteilte Jonathan Belfort im Sinn. Er ist ein Einpeitscher, dessen Feuer rasch überspringt auf das Publikum. Dass seine Angestellten ihn wie einen religiösen Führer verehren, mag für eine Partei, die das „C“ in ihrem Namen trägt, zusätzlichen Reiz besitzen. Ganz unwiderstehlich fand sie den Menschenfischer wohl nicht. Seine Ausschweifung lief untertitelt, wurde aber nicht bloß in Parteideutsch übersetzt, sondern für den dringenden Anlass umgedichtet. Obszön ist sie nun auf andere Weise. Den Wahlkämpfern wurde nur ein kurzer Ausschnitt zugemutet. Denn bei Scorsese ist der Rausch stets ein Sog des Bösen, auf den ein tiefer Fall folgt.

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