Ein Reich des Haptischen

Das größte Geschäft, behauptete er immer, machte er nicht vor Weihnachten, sondern zwischen den Jahren. In dieser Buchhandlung lief sowieso vieles anders. Die Ladenfläche war nicht groß, aber dort verbargen sich angestaubte Schätze, die anderswo längst aussortiert worden wären.

Es konnte einem also passieren, dass man ein Buch neu bestellen wollte, der Inhaber aber unversehens einen Strich durch die Rechnung machte. "Augenblick," sagte Wilfried Hepperle dann beispielsweise, "irgendwo habe ich noch eine Taschenbuchausgabe von 1972." Er verschwand im Hinterzimmer, hatte sie nach wenigen Augenblicken gefunden und verlangte einen Spottpreis dafür. Er schien genau zu wissen, wo jedes einzelne Buch stand und ich hatte den Eindruck, er habe jedes tatsächlich auch gelesen. Als ich "An den Gestaden des Mittelmeeres" bestellte, schwärmte er: "Was für ein Reisender, dieser Theroux!" Es war ermutigend, bei ihm zu kaufen.

Seine Frau Susanne Twardawa und er hatten das "Motzbuch" 1983 eröffnet und führten den Laden mit Leidenschaft. Ich erinnere mich noch, wie sie vor Freude übersprudelte, als die Nachricht kam, dass Elfriede Jelinek den Nobelpreis gewonnen hatte. Sie selbst schrieb eigene, sehr feine Bücher. In der „Edition Motzbuch“ legte sie eine kleine, handliche und liebevoll illustrierte Kiez-Historie von Schöneberg an. Ihre Bände über die Plätze in unserer Nachbarschaft und über den Tiergarten eigneten sich wunderbar als Geschenke. Sie starb furchtbar jung. Warum habe ich die Bücher nur aus der Hand gegeben und keine Exemplare für mich behalten? Sie lehrten mich, meine Gegend mit anderen Augen zu sehen. Ich hatte mich noch auf Bände über den Bayrischen und sogar den tristen Barbarossa-Platz gefreut.

Wilfried machte nach dem Tod seiner "Frau und Partnerin", wie er damals so schön schrieb, weiter. Das hatte eine gewisse Zeitlosigkeit. Um die Pflege der Website kümmerte er sich nur alle paar Jahre; er lebte in einem Reich des Haptischen. Der Konkurrenz im Netz hielt er relativ wacker stand. Manchmal riet er mir, ein Buch doch lieber gleich dort zu bestellen. Aber ich fand, dass ich lieber in einer Welt leben wollte, in der es Geschäfte wie das seine gibt. Einmal warteten wir zusammen ein halbes Jahr, bis Wagenbach die zweite Auflage von Lampugnanis "Bedeutsame Belanglosigkeiten" herausbrachte. Bestellte Bücher nannte er gern beim Namen des Autor; sie bildeten für ihn eine Einheit. Ich fand dann Nachrichten wie "Hier ist Willi vom 'Motzbuch', der Falkner ist gekommen." auf dem Anrufbeantworter. Aus seinem Mund klang das ebenso ehrfurchtsvoll, wie Wissenschaftler von Standardwerken sprechen.

Obwohl ich bereits vor 23 Jahren in seine Nachbarschaft gezogen war, changierte unsere Anrede zwischen "Sie" und "Du". Irgendwie fanden wir nie eine endgültige Lösung dafür, was ich aber nicht schlimm fand. Familiär schien mir beides. Und ich kaufte bei ihm nicht aus Bequemlichkeit, nur weil das Geschäft zwei Häuser weiter lag. Aber ich schätzte es als eine Bastion der Nahversorgung. Ab und zu traf ich einen Kollegen, der längst nach Mitte umgezogen war, aber zum Stöbern und Plaudern ins "Motzbuch" zurückkehrte. Wilfried hatte bestimmt bessere Kunden als mich, aber ich nie einen besseren Buchhändler.

Nun muss er sein Geschäft nach 37 Jahren aufgeben. Vor ein paar Wochen entdeckte ich im Schaufenster ein Schild, dass die Schließung zum 31. 12. ankündigte. Es liegt nicht unbedingt daran, dass die Kundschaft ausblieb. Natürlich hatte ich mir schon diesbezügliche Gedanken gemacht. Mit den Jahren merkt man, dass so vieles zum Auslaufmodell wird. Nein, die Vermieterin wollte es so. Die letzte, umsatzstärkste Woche des Jahres verstrich nun damit, dass die Regale leergeräumt wurden. Als ich am Mittwoch nach Berlin zurückkehrte, waren auch die abgebaut. Wie nüchtern die Räume nun wirkten, wie nackt und prosaisch. Die Vermieterin verliert keine Zeit. Heute früh kamen schon die Maler.

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