Ein Kurswechsel, vielleicht

Ein befreundeter Regisseur überraschte mich unlängst mit der Feststellung, er möge Jacques Audiards Filme nicht: Sie würden sich zu sehr auf Gewalt verlassen. Ich bin gespannt, was er von »Les Olympiades« halten wird, der bald in Cannes seine Premiere feiert. Erst recht bin ich gespannt, was ich selbst von ihm halten werde.Allem Anschein nach geht er in eine friedlichere Richtung; wenngleich der Stoff, der ihn inspiriert hat, im Original »Killing and dying« heißt.

Ich vermute, Eindruck und Urteil meines Freundes hatten sich an der rasanten Dokumentation „Der Herzschlag eines Cineasten“ entzündet, die vor einigen Wochen auf arte lief. Ich war zunächst zu verblüfft, um ihm zu widersprechen. Allerdings glaube ich, ihn verstanden zu haben. Action als Sicherheitsnetz steht deutschen Autorenfilmern eher selten zu Gebot. In Audiards Kino schien die Gewalt bisher ein unverzichtbares Kraftfeld der Dramaturgie zu sein und baute zuverlässig eine Brücke zum breiteren Publikum. Sein neuer Film kommt offenbar ohne sie aus. Die Synopsis auf der Website des Festivals stellt einen Liebesreigen à la Éric Rohmer, Pascal Bonitzer oder Emmanuel Mouret in Aussicht: "Paris, 13th District today. Emilie meets Camille, who is attracted to Nora who crosses the path of Amber. Three girls and a boy redefine what modern love is."

Die Vorlagen, die Audiard sich aussucht, sind stets überraschend. Meist stammen sie von nordamerikanischen Autoren, die man vor den Verfilmungen allenfalls vom Hörensagen kannte. Die Freiheit, die er sich bei der Adaption nimmt, schließt Treue zum Original nicht notwendig aus, wie »The Brothers Sisters« auf faszinierende Weise demonstriert (siehe Eintrag "Ein Lächeln, das bleibt" vom 25. 3. 2019). Aber dieses Projekt gibt mir nun wirklich Rätsel auf. »Les Olympiades« beruht auf einem Buch des amerikanischen Comiczeichners Adrian Tomine, das auf deutsch 2016 bei Reprodukt unter dem Titel "Eindringlinge" erschienen ist. Er versammelt sechs graphische Kurzgeschichten, die inhaltlich unverbunden und in einem je eigenen Stil gezeichnet sind. Im Seitenlayout unterscheiden sie sich, das manchmal etwas freier, manchmal sehr rigide, aber immer ruhig geordnet ist. Ihre Handlung nimmt kaum je eine dramatische Wendung; es sind Momentaufnahmen von Leben, die sanft auf- und dann abgeblendet werden: kleine, humorvolle Elegien über die Demütigungen des Alltags.

Sie bieten sich nicht ohne weiteres zur Verfilmung an. Das ist weniger ein Problem der medialen Übersetzung, als vielmehr des Stils. Vor ein paar Jahren arbeitete Audiard bereits zusammen mit Céline Sciamma an einer Adaption, die er dann vorerst aufgab. Mit einer weiteren Co-Autorin, Léa Mysius (der Regisseurin von »Ava«), scheint er inzwischen einen zweiten Atem gefunden zu haben. (Kurios, beide Regisseurinnen hat zuvor schon André Téchiné als Szenaristinnen verpflichtet.) Aus den Vorankündigungen des Films geht nicht zweifelsfrei hervor, welche Geschichten er miteinander verflicht (in manchen Quellen wird auch »Hawaiian Getaway« aus dem Band "Sommerblond" genannt), auf jeden Fall gehört aber "Amber Sweet" dazu, die von einer Collegestudentin handelt, deren Leben kompliziert wird, weil sie einem Pornostar aus dem Internet zum Verwechseln ähnlich sieht.

Ein ungewöhnlicher Audiard ist »Les Olympiades« auch insofern, als dies sein erster Film in Schwarzweiß ist. Ich vermute, diese Entscheidung ist weniger der Vorlage geschuldet, in der Tomine behände zwischen Schwarzweiß, gedämpften Farben und Monochrom wechselt, sondern Audiards Wunsch, ästhetisch einen anderen Kurs einzuschlagen. Will er seine Auffassung vom Kino gründlich erneuern? Seit einigen Monaten wartete ich zugleich gespannt und beunruhigt ab, ob sein Film für Cannes ausgewählt wurde. Einerseits gehört er zu den Abonnenten des Wettbewerbs. Aber im Gegenzug verbringt er ja normalerweise eine halbe Ewigkeit mit Juliette Welfling im Schneideraum, wo seine Filme noch einmal ganz neu erzählt werden können (weshalb das Bonusmaterial seiner DVD-Ausgaben oft immens aufschlussreich ist – die deleted scenes von »Sur mes lèvres«/ »Lippenbekenntnisse« etwa formieren sich zu einem eigenen Erzählstrang, den er schließlich komplett fallen ließ). Es ist gut möglich, dass »Les Olympiades« erst wirklich fertig ist, wenn er am 14. in Cannes läuft; von meinen Pariser Kollegen hat ihn jedenfalls noch keiner sichten können, anders als die Wettbewerbsbeiträge von Carax, Desplechin, Verhoeven und Gaspar Noe.

Es ist also noch alles offen. Einige Spekulationen will ich dennoch anstellen. Auf die viel beschworene Verwandtschaft zwischen Comic und Film wird Audiard wohl nicht vertrauen, sie folgen ohnehin anderen Dramaturgien von Erwartung und Entdecken. Analogien muss er nicht herstellen. Tomines Geschichten sind stark dialoggetrieben, besonders jene, deren Panels streng gerastert sind. Filmische Techniken wie Schuss-Gegenschuss setzt er nicht ein. Die sind auch nicht Audiards Sache. Eine der schönsten Geschichten jedoch hat mich ans Kino denken lassen: "Übersetzt aus dem Japanischen" handelt von einer Ehekrise, ohne dass man die Betroffenen je sieht. Nur das Ambiente und bezeichnende Requisiten genügen Tomine. Dies Erzählprinzip ähnelt dem Ende von Antonionis "Liebe 1962", wo die Liebenden nicht mehr auftauchen, sondern nur die Orte, an denen sie sich nicht treffen. Die Vorzeichen sind anders und ich bezweifle, dass die Idee von Antonioni inspiriert wurde. Obwohl das Kino einen Platz in seinem Schaffen hat – ausführlich in »Shortcomings« (Halbe Wahrheiten); er hat auch das Cover einer Ozu-DVD-Box illustriert -, scheint mir seine Cinephilie nicht heillos.

Die Frage, wie das Drehbuch nun Tomines unterschiedlichen Geschichten zusammenführt, ist vielleicht weniger interessant als die, ob der Film ihren eigentümlichen Tonfall zu treffen versucht. Die Lakonie dieses Autors ist bestrickend. Er setzt wunderbare Ellipsen (die in der Titelgeschichte "Killing and dying" ist herzzerreißend), die zu der Wehmut seiner Miniaturen beitragen. Denn auch wenn sie sich inhaltlich nicht aneinander fügen, entsteht doch ein atmosphärischer Einklang. Es sind Chroniken von Verlust oder Scheitern, sie handeln von der Sabotage des Glücks, dem Zerfallen von Beziehungen und Lebensentwürfen. Das ist traurig, aber nicht entmutigend. Tomines Figuren befinden sich in Prozessen des Übergangs; ihre Leben verschieben sich. Sie stecken in kleinen Bildungsromanen, suchen sich und werden geformt. Damit kann der Regisseur von »Der wilde Schlag meines Herzens« und »Ein Prophet« etwas anfangen. In »Amber Sweet« gibt es übrigens eine kurze Action-Szene, eine tragikomische Schlägerei in vier Bildern. Ich denke, Audiard wird auf sie verzichten.

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