Ein Branchenblatt

Es fing unverdächtig an. Na ja, sofern man Wes Anderson für harmlos hält. Dann ging es schleichend weiter. Ein paar Tage später waren Soundtracks dran und heute früh Bürostühle. Obwohl ich schon beim zweiten Morgenkaffee saß, glaubte ich zu träumen: „IndieWire“ ist in den Versandhandel eingestiegen.

Sie kennen die amerikanische Filmseite bestimmt. Die IMDb verlinkt ständig zu ihr. Wie der erste Teil ihres Namens vermuten lässt, widmete sie sich ursprünglich dem Independent Kino, daheim und weltweit. Seither haben sich ihre Interessen diversifiziert. Aber auch heute nennt sie sich noch „The Voice of Creative Independence“. Ihre Autoren sind anscheinend gut vernetzt (da kommt der zweite Teil ihres Namens ins Spiel) und dementsprechend bestens informiert über das, was in der Welt der Bewegtbilder passiert. Ich konsultiere sie häufig und einigermaßen vertrauensvoll: als eine interessante Quelle über die Verwerfungen des Geschäfts und auch, weil renommierte Kritiker wie Todd McCarthy, den ich schon seit Jahrzehnten lese, für sie arbeiten. Der „IndieWire Critics Poll“, die Umfrage unter Kollegen nach den besten Filmen des Jahres, findet stets große Beachtung.

Mit den Bestenlisten, die sie in dieser Woche veröffentlichte, läuft sie jedoch Gefahr, ihre Glaubwürdigkeit zu verspielen. Es fing, wie gesagt, mit Wes Anderson an. Zuerst las sich das Stück als eine jener kuriosen Geschichten darüber, wie nachhaltig dessen Welt in die reale eindringt. Das kennt man ja: Orte und Objekte, die so aussehen, als hätte sein Production Designer sie erfunden. Mittlerweile gibt es Bücher darüber und auch dieser Blog kam an dem Phänomen nicht vorbei. Das ist ein reizvoller, durchaus ertragreicher journalistischer Zeitvertreib. Aber „How to decorate your home like a Wes Anderson Movie“ entpuppte sich als eine neuerliche Diversifizierung der Interessen: eine Werbeveranstaltung auf Kommissionsbasis. Man stößt auf lauter bunte Gegenstände, die in der Tat an Anderson-Requisiten erinnern. Sie sind es nicht, aber bevor man das begreift, hat man vielleicht schon den „Buy-it“-Button angeklickt und ist stracks und ausnahmslos bei Amazon gelandet. Zunächst dachte ich verwundert: Gehen denen etwa die Themen aus? Könnte ja passieren in diesen Zeiten. Meine zweite Vermutung ging dahin, ich sei arglos in eine Ironiefalle getappt. Aber nein, bei den folgenden Artikeln wurde mir klar, dass ich der Entdeckung eines neuen Geschäftszweiges beiwohnte. Die zehn besten Soundtracks, gern auf teurem Vinyl, und gleich darauf die zehn bequemsten Bürosessel – was kommt als Nächstes, Heizdecken? (Update: Inzwischen sind Flatscreens und Marvel-Merchandise hinzugekommen.)

Hier geht es nicht um ein Zubrot, das man in Krisenzeiten vielleicht noch gern verdienen würde, sondern um Ausverkauf. Ein Tabubruch. Wissen sie bei „IndieWire“, was sie tun? Wie mögen sich bloß die Autoren fühlen, die mit ihren Namen für diese Firmenpolitik einstehen? Ihre Aufgabe ist die kritische Würdigung, nicht das Verscherbeln. Der Argwohn, die amerikanische Filmkritik sei zur Konsumempfehlung – Daumen rauf, Daumen runter – verkommen, ist nicht neu. Ich habe schon in den 1980ern Filmemacher interviewt, die sich darüber beklagten. Zum Glück greift er nicht vollends, erst recht nicht, seit sich mit dem Internet ungekannte Formen der Auseinandersetzung entwickelt haben. Diese Entwicklung stößt ohnehin in eine andere Dimension vor, sie ist nicht nur den Schritt von einer Form der Gefälligkeit zu einer anderen.

Vielleicht ist es ein systemisches Problem. Seit 2016 ist „IndieWire“ eine Tochtergesellschaft des Medienkonzerns Penske. Auf den wurde ich zum ersten Mal wirklich aufmerksam, als er nach „Variety“ auch die unmittelbare Konkurrenz „The Hollywood Reporter“ kaufte. Schon das brach ein Tabu: Das ist so, als würden alle Tageszeitungen einer größeren Stadt zu einem Verlag gehören. Man legitimiert dergleichen gern als einziges Mittel, die Titel zu erhalten, Stützung, Synergieeffekte etc. Aber je größer ein Medienkonzern wird - Springer demonstriert das hier zu Lande seit vielen Jahren -, desto mehr versteht er sich als ein Warenhaus. Vielleicht habe ich es ja nicht mitbekommen und „IndieWire“ hat mittlerweile den Eigentümer gewechselt, gehört nun zu Amazon. So oder so sollte die Seite sich einen anderen Namen suchen.

 

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