Die Welt wird auf Samoa gerettet

Mit „Spiderman – No Way Home“ ist vor wenigen Tagen der erste Blockbuster angelaufen, dessen Zahlen nicht durch Corona getrübt scheinen. Endlich ein Kassenerfolg, der nicht mehr relativiert werden muss. Die Rekorde, die er am ersten Wochenende brach - zweitbester US-Start (260 Millionen Dollar), drittbester weltweit (587 Millionen) -, stehen für sich, ohne wenn und aber, und entrücken dies Phänomen resolut der Krise.

Für ein solches Einspielergebnis mussten sich die bisherigen Kinohits des ausgehenden Jahres, „Keine Zeit zu sterben“ und „Fast & Furios 9“, erheblich länger abstrampeln. Und das sogar ohne den chinesischen Markt! Für Sony, Marvel und die Kinobesitzer also eine höchst erfreuliche Vor-Weihnachtsbotschaft. Womit wir bei den Feiertagen wären, die sich trotz Pandemie als das Fest der Familie behaupten. Sie sind, während ich Ihnen alles Gute wünsche, an dieser Stelle erst einmal eine Gelegenheit, einen Vorsatz einzulösen, den ich nicht zu Neujahr, sondern im Oktober fasste. Er hat nichts mit „Spiderman“ zu tun, wohl aber den zwei anderen Titeln. Zum Start des Bond-Films erklärte ich die Saga zum Urmeter aller Franchises (nicht hier, an anderer Stelle) und stellte dabei eine Vermutung an, für die ich in der Folge einige Schelte einstecken musste. Ich schrieb: „Wer kann, abgesehen von eingefleischten Fans, im Nachhinein noch zwischen „Fast & Furios“ 5 oder 6 unterscheiden?“ Warum müssen wir etwas auch immer aufwerten, in den wir die Konkurrenz abwerten? Ein Kollege jedenfalls entdeckte darin eine kränkende Geringschätzung der hochtourigen Serie.

Es war in der Tat eine schlecht beratene Unterstellung, denn ich war nach Teil 3 aus dem Franchise ausgestiegen. Seine Langlebigkeit und sein Ausgreifen hatten mich theoretisch ohnehin fasziniert. Also entschied ich mich, das Versäumte nachzuholen. Teil 4 fehlt mir immer noch, weshalb ich möglicherweise entscheidende Weichenstellungen verpasst habe, aber einen hinreichenden Eindruck konnte ich mir dennoch verschaffen. Eins wurde mir rasch klar: An den Autorennen allein, so spektakulär sie auch sind, kann es nicht liegen, dass diese Idee zum Dauerbrenner geworden ist. Die gibt es allerorten (nicht zuletzt in anderen Vin-Diesel-Vehikeln), es muss mithin ein weiteres Alleinstellungsmerkmal existieren. Auch die beträchtliche globale Freizügigkeit, welche die Serie seit „Tokio Drift“ entwickelt hat (und die vielleicht gar ein Begriff von Globalität ist), konnte es nicht sein. Da ist ihr Bond immer noch voraus.

Was sie ausmacht, hätte mir eigentlich schon an den Plakaten auffallen können, die immer breiter werden müssen, da stetig neue Figuren hinzukommen. Das merkt man übrigens besonders gut, wenn man in Paris die Metro nimmt: Sie nehmen fast die gesamte Länge einer Station ein. Der mächtige Erzählimpuls dieser Serie ist die Familienzusammenführung. Sie ist nicht nur ihr Leitmotiv, sondern eine regelrechte Obsession. Sie wird wortreich beschworen, als ein Schlachtruf : „Family!“ könnte einmal Vin Diesels letztes Wort bei einem todbringenden Stunt sein, aber natürlich hast er schon für den nächsten Film unterschrieben.

Sie ist identitätsstiftend, ein unbedingter, natürlicher Zusammenhalt. Niemand, nicht einmal ein Schurke, ist hier allein, niemand ist ohne Anhang. Jedes neue Abenteuer dient dazu, die Familie zu schützen und zu vereinen, sie zugleich aber auch stets zu erweitern. Die Vielfalt der ethnischen Wurzeln differenziert sich jedes Mal neu, ohne dass sie eine Spaltung bedeutet. Trotz gewisser, dramaturgisch bedingter, Verluste, ist dies ein heiterer Kosmos der Zugehörigkeit. Loyalität und Wahlverwandtschaft sind den Blutsbanden beinahe gleichwertig.

Das „beinahe“ ist wichtig. Diese privilegierte Verbindung wird meist patriarchal formuliert („Leg' dich nicht mit der Familie eines Mannes an.“/ „Hat dir niemand beigebracht, wie gefährlich es ist, die Familie eines Mannes zu bedrohen?“), aber sie ist nicht unbedingt so gemeint. Die Fürsorge, mit der Vin Diesel oder Jason Statham ihre Schwestern umfangen, ist eventuell unnötig. Sie können selbst gut genug auf sich aufpassen. Irgendwie, und wahrscheinlich unbegriffen, wirkt das aristokratische Geschlechterbild von Howard Hawks nach, wo die tatkräftige Frau stark wirkt, weil ihre Tatkraft einem maskulinen Maßstab entspricht. Fast&Furious modernisiert das in dem Sinne, dass hier besondere Frauen auf besondere Männer treffen und die Augenhöhe im Blick des Publikums entstehen soll. Die Frauen sind nicht die besseren Machos, aber ebenbürtig. Zweifellos ein Fortschritt gegenüber den actionreichen Buddy Movies der 1980er.

Die Dialogebene ist in dieser Hinsicht sehr plakativ, geradezu ausschweifend, wird aber von einer zuverlässigen gestischen Unterfütterung getragen. Man umarmt sich viel, die physische Zugewandtheit ist vital. Ihr sind wenig Grenzen gesetzt. Denn obwohl in der Saga ein durchaus alttestamentarisches Rechtsempfinden waltet (das sich mühelos auf die Fans erweitert, man denke nur an den Schlachtruf „Rache für Han!“), existiert die Idee der Sippenhaft nicht. Obwohl Jason Stathams Bruder Luke Evans ein abgefeimter Bösewicht ist, dürfen er selbst, seine Mutter (immerhin Helen Mirren) und Schwester mit Sympathien rechnen. Auch auf der anderen Seite wird Familiensinn als Tugend begriffen.

So kann der Kodex sich fortsetzen in behände wandelbaren Konstellationen. Nach Paul Walkers Tod haben zumindest vorerst, vielleicht endgültig, die Recken mit kahlrasierten Schädeln die Federführung übernommen. Die Glätte der Häupter scheint wie eine Uniform, sie korreliert mit den wogenden Brustkörben und schwellenden Bizepsen. Deshalb hat der zunächst als Antagonist aufgebaute Dwayne Johnson unverzichtbar Teil an dieser filmischen Bruderschaft. Die erste Auskopplung aus dem Konzept, „Hobbs & Shawn“ (die das „&“ als selbstverständliche Signatur der Serie übernimmt), stellt geradezu die Apotheose der Idee des Familienzusammenhalts dar. Hier greift er aus in eine Weltvorstellung, deren Rettung in Johnsons Heimat Samoa besiegelt wird. Dessen ethnischen Wurzeln auf dem Inselstaat fungieren als Rückversicherung in archaischen Traditionen, die sich in der Moderne bewähren sollen. Sie sind übrigens matriarchal: Seinen Brüder ist klar, auf wessen Weisheit sie vertrauen können. Ich fand diese Eskapade sehr hübsch, auch ideologisch. Dialogzeilen wie „Wir sind Samoaner, wir können mit Problemen umgehen.“ oder „Ihr habt die Technik, aber wir haben Herzen!“ sind feurige Bekenntnisse zu einer Stammeszugehörigkeit, die absolut auf der sentimentalen Höhe der Serie stehen. Sie sind kitschig und rührend, gewiss, aber auch erhebend. Wie manche Feiertage.

 

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