Abebe

Erinnern Sie sich an die Einstellungen des afrikanischen Läufers, die in „Der Marathon Mann“ immer wieder kurz aufscheinen? Er rennt ganz allein an einer Menschenmenge vorbei, die fast abstrakt wirkt. Seinem Gesicht ist eher Konzentration als Anstrengung anzusehen. Er trägt einen feinen Oberlippenbart, einmal streicht er über die Nase und wischt den Schweiß fort.

Man weiß nicht genau, ob es Erinnerungsfetzen oder Traumgebilde sind ist, die Dustin Hoffman verfolgen. Jedoch spürt man, dass sie nicht für diesen Film gedreht wurden, ihre Farben und Körnung sind anders. Sie gingen mir nicht mehr aus dem Kopf, seit ich John Schlesingers Thriller 1977 zum ersten Mal sah. Ihre Bedeutung (Ansporn, Heimsuchung) war dabei das geringere Rätsel als ihre Herkunft. Irgendwann schwante mir, dass sie aus „Tokio 1964“ stammen könnten. Ichikawa und Schlesinger waren sich bestimmt begegnet, als sie ihre Episoden für den Film über München 1972 drehten. Gewissheit hatte ich jedoch erst, als ich Ichikawas Film vor 13 Jahren zum ersten Mal sah. Der Marathon ist sein Höhepunkt, fast eine halbe Stunde widmet er ihm. Das hat nicht nur mit dem hervorgehobenen Rang zu tun, den der Lauf als die abschließende Disziplin einnimmt.

Es liegt vor allem daran, dass dieser Läufer den Regisseur in den Bann schlug. Es ist der Äthiopier Abebe Bikila, der vier Jahre zuvor schon in Rom Gold gewonnen hatte. 1964 rechnete eigentlich niemand mit ihm, da er sich fünf Wochen vor dem Marathon einer Blinddarmoperation unterzogen hatte. Aber dieser Offizier der Leibgarde Haile Selassis muss ein Mensch von äußerster Disziplin gewesen sein. Vor der Kamera ist er ein Wunder. Hier zahlt es sich endgültig aus, dass Ichikawa auf langen Brennweiten bestand: Er ist ganz nahe dran am inneren Kampf des schmächtigen, feingliedrigen Athleten. Er begleitet seine Einsamkeit, die weder traurig noch triumphierend ist. Einen Moment löst Ichikawa als Schuss-Gegenschuss-Folge auf: Abebe rennt gegen sich selbst. Er hat Rivalen, auch die zählen für den Regisseur (er wartet sogar ab, bis der letzte Läufer im Stadion ankommt), aber es ist unmöglich und wäre frevelhaft, den Äthiopier länger als ein paar Sekunden aus den Augen zu lassen. Als er schließlich das Ziel erreicht und seinen Rekord von Rom einstellt, scheint er kein bisschen erschöpft zu sein. Der Sieger geht ruhig weiter und lockert sich mit gymnastischen Übungen. Er ist eins mit der Disziplin, für die er geboren wurde. Abebe Bikilas Nachleben war, wie mich der Eintrag bei Wikipedia belehrte, nicht weniger bewegt, ja herzzerreißend.

Mein Friseur stammt aus Äthiopien und bei meinem letzten Besuch wollte ich wissen, ob der Marathonmann noch eine Legende in seiner Heimat ist. Auf jeden Fall, bestätigte er mir. In seiner Kindheit sei er mit seinem Vater oft in dem Stadion in Addis Abeba gewesen, das nach ihm benannt ist. Die Familie seiner Frau wohnte in einer der vielen Straßen, die seinen Namen tragen. Und nein, bestritt er leidenschaftlich, Abebe sei nicht angetrunken gewesen, als er den Verkehrsunfall hatte, nach dem er querschnittsgelähmt war. Über seinen Triumph in Tokio und die Operation wusste er wenig. Ihn begeisterte vielmehr, dass sein Landsmann in Rom barfuß gelaufen war. Das hatte er sich ein paar Mal auf Youtube angesehen. Während mich die hollywoodhafte Gegen-alle-Widerstände-Dramaturgie seines Sieges von 1964 faszinierte, schätzte er die Bodenständigkeit Abebes.

Die Marathonsequenz ist in meinen Augen ein Beleg dafür, wie triftig Ichikawas Wahl des Cinemascope war. Sein Film ist die horizontale Antithese zur Vertikalen in Riefenstahls Olympia-Film, deren ästhetischer Höhepunkt das Turmspringen ist. Darin zeigt sich auch ein ideologischer Gegensatz. Riefenstahl denkt mythisch, sie setzt die Athleten als Götter in Szene (was der französische Titel ihres Films, „Les dieux du stade“, durchschaut), für die Verlierer interessiert sie sich nicht. Ichikawa hingegen entfaltet ein Panorama, das auch den Kontext des sportlichen Wettbewerbs umfasst. Sein Leitmotiv der aufgehenden Sonne ist ein Symbol der Demokratie. So habe ich Ichikawas Aussage verstanden, die als Überschrift meines gestrigen Eintrags dient.

„Tokio 1964“ wirkt über „Der Marathon Mann“ hinaus noch in anderen Filmen fort. Ein Kollege berichtete mir von der französischen Dokumentation „Die Hexen des Orients“, der die japanische Frauen-Volleyballmannschaft mehr als ein halbes Jahrhundert später porträtiert. Nach dem sie in Tokio Gold gewann, galt sie als unbesiegbar. Bei Ichikawa wirken die Sportlerinnen indes nicht sehr glücklich, eher fassungslos. Am Montag lief in der ARD die Dokumentation „Die kalten Ringe“ über die deutsch-deutsche Mannschaft, in dem Ausschnitte aus Ichikawas Film zu sehen sind. Wie radikal sich Japan damals veränderte, darüber ist viel in Jiro Taniguchs Graphischem Roman „Vertraute Fremde“ zu erfahren. (Allerdings nicht in Sam Gabarskis Verfilmung, denn die spielt in Europa.) Schade nur, dass „Tokio 1964“ selbst bei uns so unsichtbar ist.

Auch über die diesjährigen Spiele wird es einen Film geben. Das hat seit Stockholm 1912 Tradition. Insgesamt 40 gibt es bislang. Der 41. könnte wieder ein Sternstunde werden: Das Olympische Komitee hat Naomi Kawase mit der Regie beauftragt. Für sie ist das eine ganz ungewöhnliche Aufgabe (ein Team mit 100 Leuten!), jedoch las ich, dass sie Präsidentin der japanischen Basketball-Liga ist. Während des Lockdowns hat sie anscheinend schon mehrere hundert Stunden an Material drehen lassen. Bestimmt wird sie die heimischen Proteste gegen die Austragung genau verfolgt haben, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass das IOC ihr den Final Cut geben wird. Ihr Film soll aus zwei Teilen à drei Stunden bestehen. In den letzten Monaten hat sie sich Ichikawas Film angesehen und war erstaunt, wie nahe die Kamera auch bei Riefenstahl den Athleten kommt. Ihr Film soll vom Schmerz und Leid der Sportler handeln. Ich finde es etwas schade, dass sie schon jetzt weiß, wie er werden soll. Ihre Arbeit fängt doch morgen erst richtig an.

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