Vom Glück, in einen wurmstichigen Apfel zu beißen

»Joker« (2019). © Warner Bros. Pictures

Während der Broadway bereits seit mehr als einem Jahrzehnt auf Stephen Sondheims neues Musical wartet, erleben wir im Kino gerade schöne Zeiten mit seinen Songs. 2019 war ein annus mirabilis, da wurden sie ungemein schöpferisch in »Joker«, »Marriage Story« und »Knives out« eingesetzt. Isn't it rich?

Und es geht weiter. Irgendwann, wenn das alles mal vorüber ist, wird Spielbergs Remake von »West Side Story« in die Kinos kommen und hoffentlich so gut sein, dass es die Zweifel an seiner Notwendigkeit zerstreut. Bis zum Start von Richard Linklaters Adaption von »Merrily we roll along« werden wir uns noch ein, zwei Jahrzehnte gedulden müssen: ein »Boyhood«-Projekt, das mit den Darstellern reifen soll. Sondheim könnte das gefallen – auch seine Misserfolge wurden irgendwann zu Klassikern – obwohl er das Resultat nach menschlichem Ermessen wohl nicht mehr erleben wird.

Dafür strömen die Tantiemen derzeit reichlich auf sein Bankkonto. »Send in the Clowns« finde ich zwar eine viel zu naheliegende Wahl für »Joker«, die Version ist aber angemessen bizarr. Kurios, aber ausgerechnet sein berühmtestes Stück zählte nie zu meinen Favoriten. Mein Freund Binh, der in Paris viele Sondheim-Inszenierungen sehen kann, schimpft deswegen regelmäßig mit mir. Zu Sondheims 90. Geburtstag gab er mir eine letzte Chance: »Wenn dir nicht mal die Fassung von Sarah Vaughan gefällt, kann ich dir nicht helfen!« Er hat mal wieder Recht, Sassy zusammen mit Count Basie, das ist ein Gipfeltreffen: Are we a pair. Sie entschleunigten das ohnehin balladeske Tempo nochmal ungeheuer. Warum habe ich mir dies Vergnügen bisher nur entgehen lassen?

Das große Risiko bei Sondheims Songs besteht darin, sie als Hymnen zu interpretieren. Was sie natürlich sind: ans Glück, an Selbstbestimmung, Schönheit, Verlust, Einsamkeit etc. Aber es ist schöner, wenn es nicht die Prämisse ist. Adam Drivers Stegreifversion von »Being Alive« ist wunderbar, weil er sich dabei einmal mehr als ein begnadet nüchterner Schauspieler zeigt. Die Emphase darf sich langsam entwickeln. Scarlett Johansson steht in »Marriage Story« vor einer ungleich schwereren Herausforderung. »You could drive a person crazy« ist halsbrecherisches Uptempo, da brauchen sie und ihre Company einen Moment, um gemeinsam in den Takt zu finden. Die Spontaneität des Trios aber hat mich, ebenso wie ihren Freundeskreis, begeistert.

Meinen Sondheim-Lieblingsmoment des letzten Kinojahres könnte man leicht verpassen, so beiläufig ist er eingeflochten. Daniel Craig summt »Losing my mind«, gedankenverloren, als er in »Knives out« im Auto wartet. Eine kurze, luxuriöse Paranthese, und vielleicht eine bezeichnende Zerstreuung: Warum geht ihm gerade dieser Song durch den Kopf? Er scheint auf Anhieb gar nicht zur Figur zu passen. Aber sie hört ja nicht auf, uns zu überraschen. Diese Szene jedenfalls ist wie ein kleines Geheimnis, das wir mit ihr teilen.

336 Filme und TV-Sendungen listet die IMDb momentan auf, in denen Sondheim-Lieder vorkommen. Er galt früher als zu intellektuell, zu raffiniert, zu elitär, zu kühl, zu sehr New York (weshalb er so exzellent ins Milieu von »Marriage Story« passt), zu sehr auf neurotische Charaktere konzentriert. Ein amerikanischer Freund sprach mal von »an acquired taste«, aber mittlerweile ist dieser Geschmack breitenwirksam angenommen. Er versteht sich selbst auch als Erzieher, nicht seine sympathischste Eigenschaft, aber das Publikum ist ihm auf sein Niveau gefolgt – was für alle Beteiligten spricht.

Die vielfältige Einsatzfähigkeit seiner Songs ist faszinierend paradox. In seinen Musicals legt er Wert auf Charakterstimmigkeit: Die Figuren haben immer einen Grund, gerade dies in diesem Moment zu singen. Sie sind zugeschliffen, entstehen unmittelbar aus der Handlung. Jedoch können sie grandios funktionieren, wenn sie aus dem Kontext gerissen werden. »Not while I'm around« ist einer der großen Trost- und Vertrauensspender des American Song Book, aber in »Sweeney Todd« ist das Stück ein Wiegenlied, das die ruchlose Pastetenbäckerin Mrs. Lovett dem voraussichtlich nächsten Opfer des dämonischen Barbiers singt. Begreift Jennifer Aniston all das, wenn sie es in »The Morning Show« singt?

Die Ambiguität seiner Texte braucht Interpreten, die gute Darsteller sind. Gewiss, sie stellen enorme Herausforderungen an Stimme und Technik. Das Singtempo, das Sondheim verlangt, ist oft atemberaubend. Seine Melodik ist vertrackt (Madonna brauchte einen Monat, um die Noten ihrer Songs in »Dick Tracy« zu lernen; der Oscar-Sieger »Sooner or Later« war fast noch das einfachste Stück.). Seiner Musik eignet eine ungeheure Dringlichkeit, oft eilt sie erwartungsvoll und synkopisch beschwingt voran, als würde sie von unbändiger Neugier und Lebenseifer angetrieben, aber dann verändert sich der Rhythmus abrupt. Alain Resnais, der übrigens davon überzeugt war, dass Sondheims Texte maßgeblich zum Rhythmus von Leonard Bernsteins Musik für die »West Side Story« beitrugen, sprach einmal von dem »Aspekt des wurmstichigen Apfels«: Es gibt eine verborgene Agenda auch in seinen eingängigen Melodien.

Mithin müssen sich seine Interpreten auf Doppeldeutigkeiten verstehen, in der Lage sein, widersprüchliche Empfindungen zur gleichen Zeit zu verspüren. Der Textdichter Sondheim ist vornehmich von der Idee des Glücks fasziniert. Aus seiner Feder stammen einige der schönsten erwartungsvollen oder melancholisch zurückblickenden Liebeslieder; der Augenblick der Erfüllung findet in seinen Songs nicht statt. Der eigenen Identität sind seine Figuren sich nie ganz gewiss: eine ewige Suche. Interessanterweise haben seine klassischen Broadway-Interpreten große Karrieren in Fernsehserien gemacht und weniger im Kino: Angela Lansbury, Dean Jones, Len Cariou, Mandy Patinkin, später dann Neil Patrick Harris und Raul Esparza. Die zauberhafte Bernadette Peters ist ein Sonderfall. Weshalb das Kino so wenig mit ihr anfangen konnte, ist ein erschütternd trauriges Rätsel. Ich bin sicher, dass Alain Resnais wiederum Elaine Stritch in »Providence« besetzt hat, weil er sie in »Follies« gesehen hat und ihr »I'm still here« (wirklich eine Hymne, das kann man nicht anders singen) nicht vergessen konnte.

Die Bilanz der filmischen Sondheim-Adaptionen ist ziemlich durchwachsen. Robert Wise' »West Side Story« war epochal. »A Funny thing happened on the way to the Forum« (Toll trieben es die alten Römer) altert vielleicht nicht so gut, trotz Richard Lester, Zero Mostel und Buster Keaton. Satire schafft nicht immer den Anschluss zum Jetzt. In »A little Night Music« (Das Lächeln einer Sommernacht), von seinem bewährten Bühnenregisseur Harold Prince altbacken inszeniert) tritt zwar der treffliche Len Cariou auf, aber Elizabeth Taylors Version von »Send in the Clowns« könnte die schlechteste überhaupt sein. Er hat bislang einfach selten die richtigen Filmemacher gefunden; bei »Into the Woods« führte leider Rob Marshall Regie. Tim Burton lotet das Makabre von »Sweeney Todd« mit einer Kühnheit aus, deren Altersfreigabe den Film einige Millionen potenzielle Zuschauer gekostet haben wird. Seine familiären Stars (Johnny Depp, Helena Bonham Carter) sind ihrer Aufgabe hinreichend gewachsen. »Pretty Women«, das mörderische Duett von Depp und Alan Rickman, gehört zu meinen absoluten Guilty pleasures: triumphaler Sarkasmus, fast eine Quintessenz.

Wenn Sondheim hingegen genuin fürs Kino komponierte, dann immer mit exquisitem Ergebnis. »Stavisky...« finde ich eine der herausragenden Partituren der 70er. Als Resnais aus Jorge Sempruns Drehbuch das shooting script entwickelte, hatte er angeblich ständig »A little Night Music« in den Ohren (ich nehme an, vor allem die Ouvertüre). Die Gesten und den Gang seiner Schauspieler stimmte er ganz auf Sondheims Rhythmus ab. Schwer vorstellbar bei Jean-Paul Belmondo. Aber wahrscheinlich stimmt es. In »Reds« von Warren Beatty ist Sondheims Beitrag sehr diskret, in »Dick Tracy« prominenter.

Seine Beziehung zum Kino ist indes noch weit komplexer. Zwei seiner schönsten Musicals basieren auf Filmstoffen, »A little Night Music« auf Bergmans »Das Lächeln einer Sommernacht« und »Passion« auf dem Melo »Passione d'amore« von Ettore Scola: eine exzellente Idee. Das habe ich sogar einmal am Broadway gesehen, ein echter Glücksfall, am Abend vor der Tony-Verleihung galt es noch als Flop, danach hätte man keine Karten mehr bekommen. Mittelbar wurde Sondheim zur Inspirationsquelle zu einem der besten Film von Joseph L.Mankiewicz, »Sleuth« (Mord mit kleinen Fehlern). Der Autor der Bühnenvorlage, Anthony Shaffer, besuchte ihn in seinem Haus, das zum Vorbild für Andrew Wykes Villa wurde. Sondheim war (und ist es wahrscheinlich immer noch) fasziniert von Spielen und Rätseln. Das merkt man besonders in dem Drehbuch zu »The Last of Sheila« (Sheila, Regie Herbert Ross), das er 1973 zusammen mit Anthony Perkins schrieb: eine ziemlich erbarmungslose Schnitzeljagd voller doppelter Böden, zu entdeckender Geheimnisse und entlarvter Lebenslügen. Wenn man es recht bedenkt, der beste Sondheim-Film. Ein Kritiker fand damals, Sondheim sei zu smart fürs Kino. Wie schön, dass wir es heute besser wissen.

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