Die Dächer von Parma

»Prima della rivoluzione« (1964)

Als Kanzleramtsminister Helge Braun vor einigen Tagen von einer trägen Verlangsamung sprach, hätte man dies zunächst für einen Pleonasmus halten können. Aber der vertrauenerweckend gemütliche Politiker mit dem derzeit etwas wehmütigem Blick (er ist gelernter Mediziner) wählt seine Worte mit Bedacht aus. Er bezog sich auf die Zunahme der Neuinfektionen.

Inzwischen schreitet die Verlangsamung schneller voran. Derweil habe ich jedoch den Eindruck, mein Arbeitsleben sei zu jenem Pleonasmus geworden. Das Pensum ist zwar geringer, aber ich brauche viel länger dafür. Was bald ansteht, wird unzüchtig lange hinausgeschoben. Nicht einmal mit der Entschleunigung kann ich Schritt halten. Auch in Sachen kultureller Zerstreuung muss ich mein Versagen auf der ganzen Linie eingestehen: Bisher nur eine einzige Inszenierung aus dem Online-Spielplan der »Nachtkritik« gesehen, bei Lucia Berlins Kurzgeschichten gerade einmal über Seite 100 hinausgekommen, das Filmkonzert von Radio France immer noch nicht in der arte Mediathek angeschaut und den Stapel der DVDs erst um eine verkleinert. Auch Trägheit sei eine Kraft, las ich gestern. Immerhin erfreue ich mich tagaus, tagein an den canzone von Gino Paoli.

Sie haben noch nie von ihm gehört? Ich habe entdeckte ihn auch erst vor zwei Wochen, auf verschlungenen Wegen. Nach der Arbeit an meinem Bellocchio-Porträt für die aktuelle Ausgabe überkam mich die Lust, endlich eine sträflich klaffende Lücke zu schließen und »Vor der Revolution« kennenzulernen, den sein Freund Bernardo Bertolucci 1963 gedreht hat. Die italienische Blu-ray des Label »Ripleys Films« enthält die restaurierte Fassung (kurioserweise auch die deutsche Synchronfassung) sowie ein umfangreiches Bonusmaterial. Letzteres schüchterte mich erst einmal mächtig ein: drei Stunden Interviews, eine Einführung von Scorsese sowie zeitgenössische Reportagen und neuere Dokumentationen.

Der Film war rasch gesehen. Ich halte »Prima della rivoluzione« inzwischen für Bertoluccis besten, neben »Il conformista« (Der große Irrtum). Er besitzt, sichtlich angespornt von der Nouvelle Vague, eine ungeheure Frische: ästhetisch und inhaltlich eine Aufkündigung der Kontinuität. Zwar handelt er vom Ennui, ist aber frühlingshaft, tatsächlich ein Osterfilm. Er gibt einem unbestimmten Lebensgefühl Ausdruck, das 1968 eine politische Form fand. Die Geschichte spielt im Bürgertum von Bertoluccis Heimatstadt Parma (»der Stadt die durch den Fluss in Arme und Reiche geteilt ist«) und ist sehr autobiographisch. Nun, über die Revolution diskutieren und im Kino »Red River« sehen, ist nicht das schlechteste Leben. Fabrizio, das ziellose Alter ego des Regisseurs (Francesco Barilli hat in der Tat frappierende Ähnlichkeit) verliebt sich in seine Tante Gina, eine Frau von 30 Jahren, modern, Mailänderein, hinreißend gespielt von Adriana Asti. Der Kameraschwenker kommt kaum mit, so lebhaft sind ihre Mimik und ihr Körperspiel. Asti war die einzige professionelle Schauspielerin in einem Ensemble trefflicher Laien.

In der Sequenz auf der Piazza, wo das spätere Liebespaar einkauft, sich aus den Augen verliert und in der Menge wiederfindet, hat mich der Film endgültig gepackt. Dazu läuft »Ricordati« von Gino Paoli, eine geballte Ladung nostalgischer Daseinsfreude. Auch ein zweites canzone von ihm setzt Bertolucci ganz ohne Ironie ein, »Vivere ancora«, zu dem die Zwei tanzen und sich, unbemerkt von der schläfrigen Familie, küssen. Welch schönes Versprechen, schon damals. (Sie finden beide Titel auf YouTube – falls Sie wissen wollen, mit welchen Wohlklängen ich meine Nachbarn traktiere.) Kurz vor dem Ende, als das alljährliche Fest der »L'unità« aufgebaut und bevor Fabrizio sich in eine konventionelle Ehe fügen wird, spricht er mit seinem Freund und Mentor (gespielt vom Filmkritiker Morando Morandini) über verlorene Illusionen. Er sagt diesen unfassbaren Satz: »Mein Fieber ist, dass ich Nostalgie für die Gegenwart empfinde.« Eine schönere Definition der Melancholie habe ich seit Victor Hugo nicht gehört.

Nach einer Woche nahm ich das Bonusmaterial in Angriff, das, ebenso wie der Film, englisch untertitelt ist. Ich brauchte einen ganzen Tag dafür, weil ich keine Minute auslassen wollte. Ich lernte den Film noch einmal neu kennen. Die zeitgenössischen Dokumente sind prägnant, auch der Vergleich zwischen Arbeitskopie und fertigem Film ist aufschlussreich (ein tolles Gegeneinander von Intuition und bündiger Montage). Besonders gefiel mir der vardahafte Kurzfilm »Effeti personali«, in dem einige Nebendarsteller Jahre später zu den Drehorten zurückkehren und zeigen, wie viel vom Film noch in ihnen steckt.

Die Zeitzeugen sind beredet. Man spürt, wie viel Aufbruch damals, in den Pasolinijahren, im italienischen Kino war: vielleicht noch mehr als in der Gesellschaft. Kritiker und AkademikerInnen kommen zu Wort, aber vor allem das Team. Als die Supplemente 2003 gedreht wurden, lebten sie noch alle. Der Cutter Roberto Perpignani spricht über den Einfluss von »Letztes Jahr in Marienbad« und vermittelt dennoch, wie eigenständig und unvorhergesehen »Prima della rivoluzione« war: »Jede Szene zeigte, dass sie anders als die anderen ist.« Produzent Giovanni Bertolucci evoziert die Jeunesse dorée von Parma und berichtet, dass die Kunstfilme damals von den großen Produzenten finanziert wurden, die ihr Geld im feindlichen Lager, dem Mainstream, verdienten. Ennio Morricone erzählt, wie er sich von den Dächern Parmas zu seiner Musik inspirieren ließ. Adriana Asti, die damals Bertoluccis Lebensgefährtin war, erinnert sich, wie indiskret sie den Film fand. Sie staunt darüber, wie Gina reagiert, als sie im Finale in der Oper Fabrizio mit seiner jungen Frau sieht:»Die Szene hätte melancholisch sein müssen, aber Gina ist ruhig«.

Das Interview mit Bertolucci ist halb so lang wie der Film.Er erzählt prächtige Anekdoten (ein Produzent wurde zum Militärdienst eingezogen, desertierte, kam in Haft, aus der er mit Hilfe der Mafia entlassen wurde). Er hat lange gezögert, bis er den Film wiedersehen wollte. Hier erzählt er einen »leichten« Inzest, erst in »La Luna« hat er es gewagt, direkt zu sein. Der Satz über die Nostalgie ist zentral für ihn, ein Synonym der Furcht, vom Erleben des Augenblick getrennt zu werden.

Ich kann nicht mehr sagen, ob ich ihn sofort verstand. Ich schaltete die Blu-ray aus und ging ans Fenster. Während ich auf den Hof hinausschaute, kam mir der Moment in den Sinn, als Gina und Fabrizio durch eine Laterna magica auf die kleine Piazza in einem Nachbardorf blicken. Er ist magisch, die einzige Szene des Films, die in Farbe gedreht wurde. »Wo«, fragt Gina, »werden wir im Herbst sein?«

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