Erinnerungen für morgen

Wann beginnt eine Filmemacherin, es zu sein? Natürlich gibt es einen offiziellen Anfang, das erste verfilmte Drehbuch oder das erste Mal, dass sie hinter/neben/vor einer Kamera steht. Der gefühlte Anfang ist schwerer zu bestimmen. Er fällt in eine Zeit der Latenz, der schwebenden Bereitschaft, des Mit-, Nach- und Vorausdenkens. Je nach Temperament und Wesen wird er näher am Ausbruch der Sehnsucht oder am Termin ihrer Erfüllung liegen.

Welches Datum Ulrike Ottinger hierfür bestimmen würde, vermag ich nicht zu sagen. Aber seit dem Besuch ihrer Ausstellung „Paris Calligrammes“ im Berliner Haus der Kulturen der Welt (www.hkw.de) weiß ich etwas mehr über die Zeit, in der es lag. Sie kam 1962 als Malerin nach Paris, studierte dort Radiertechnik und war bereits an einigen Ausstellungen beteiligt. Sie besuchte Vorlesungen an der Sorbonne, von Claude Lévi-Strauss, Louis Althusser und Pierre Bourdieu. Ihr Interesse an Ethnografie blühte also in dieser Zeit auf. Zudem ging sie Henri Langlois' Cinémathèque. 1966, drei Jahre vor ihrer Rückkehr nach Deutschland, schrieb sie ihr erstes Drehbuch, dessen Titel „Die mongolische Doppelschublade“ verrät, dass sie bereits genau wusste, was sie wollte: Schließlich werden Möbel und ferne Länder auch später eine tragende Rolle spielen bei der Titelfindung ihrer Filme.

Beim Besuch der Ausstellung darf man zeitweilig indes getrost vergessen, dass sie Filmemacherin wurde. Man erlebt sie als wachsame Zeitgenossin. Ulrike Ottinger kommt beneidenswert pünktlich in die Metropole. Sie ist zwar eine lebhaft beteiligte Zeugin des Mai 1968 – eine nachhaltige Erinnerung ist das Schlagen der Polizeiknüppel auf Pflastersteine -, deren Gewalt und Auswirkungen sie aber (im Nachhinein?) mit einiger Skepsis betrachtet. Sie bettet die Studentenunruhen ein in das, was ihnen vorausgeht, etwa den Skandal um Jean Genets Algerien-Stück „Die Wände“ an Jean-Louis Barraults Theater. Sie ist rechtzeitig in Paris, um das Massaker mitzubekommen, das der Vichy-Veteran Maurice Papon, nun Polizeichef, 1962 unter Algeriern und Demonstranten gegen den Krieg anrichten lässt.

Der Kolonialismus ist eines der zwei Themen, die sich durch die Ausstellung ziehen. Das andere ist das Exil. Auch dazu ist sie rechtzeitig am rechten Ort: Sie besucht oft die Buchhandlung „Caligrammes“ in der Rue du Dragon im 6. Arrondissement, die Fritz Picard elf Jahre zuvor eröffnet und zu einem Brennpunkt des deutsch-französischen Kulturlebens gemacht hatte. Picard stammt, wie sie, aus Konstanz. Im ersten Raum wird der Genius dieses Ortes illustrer Begegnungen beschworen, der seinen Namen den grafischen Gedichten Guillaume Apollinaires verdankt: mit wie beiläufig drapierten, aber zielstrebig assemblierten Buchauslagen, einem Radiointerview mit Picards Freund Walter Mehring und einer Reportage, für die Georg Stefan Troller den Buchhändler und sein unerschöpfliches Antiquariat besucht hat.

Die Szenografie vergegenwärtigt die Epoche einerseits mit Collagen aus Stoff, die ihre Begeisterung für die Pop-Art und ihre brennende Neugier auf die ideologischen Kämpfe der Zeit verraten. Ihre Signatur ist hübsch: Ihre Initialen, meist am linken unteren Bildrand versteckt, sehen aus wie ein Fingerzeig, der nach unten gerichtet ist. Die Räume, die den öffentlichen Erregungen gewidmet sind, hat sie mit zeittypischen Wandzeitungen tapeziert. Das Plakat zu William Kleins „Mr. Freedom“ gemahnt daran, wie dräuend der Schatten Amerikas über Paris liegt; Ottinger macht den Vietnamkrieg als eigentlichen Auslöser des Pariser Mai namhaft.

Mit Ré Soupaults Fotografien des „reservierten“ Viertels von Tunis und Bourdieus Studien aus Algerien werden Wurzeln ihrer ethnografischen Interessen aufgerufen; im gleichen Saal darf man erstaunt zuhören, wie Jean Rouch und Jacques Lanzmann (Claudes Bruder) sich über dessen Neuausgabe von Edgar Rice Burroughs' „Tarzan“-Romanen unterhalten und feststellen, dass sie gar nicht so rassistisch sind. Die brüsk auslaufende und fortdauernde Kolonialgeschichte Frankreichs rekapituliert Ottinger in einem kleinen Kinosaal mit gegenüberliegenden Projektionsflächen. (Mit einem Schlag wird mir hier bewusst, wie viele Kolonien Frankreich tatsächlich hatte.) In einer Vitrine ist, ebenso dezent wie die Signatur der bildenden Künstlerin, eine winzige Ausstellung mit afrikanischen Figurinen untergebracht, in deren Mitte ein Kameramann steht. Spätestens in diesem Raum empfiehlt es sich dann doch, wieder an die Filmemacherin zu denken.

Denn die Ausstellung, die sich eine „Erinnerungslandschaft“ nennt, weist auf ihren nächsten Film voraus, der ebenfalls den Titel „Paris Calligrammes“ heißen wird. Die Requisiten ihres Pariser Bildungsabenteuers sind also bereits ein Laboratorium ihrer Zukunft. Im Frühjahr 2018 hat sie mit den Dreharbeiten begonnen, von denen es im Kinosaal Ausblicke gibt. Besonders beeindruckt haben mich ihre Impressionen der Überreste der Pariser Kolonialausstellung von 1907 im Bois de Vincennes, von denen die Gegenwart nun nonchalant Besitz genommen hat; wenngleich die Denkmäler für die Kolonialtruppen an eine entsetzliche Historie erinnern. Dort liegt auch das Palais de le Porte Dorée, das seit den 1930er Jahren ein Kolonialmuseum ist. (Dort kündigt sich während Vincent Lacoste' Fahrradtour in „Mein Leben mit Amanda“ übrigens das Unheil an.) Ottinger filmt die Wandreliefs mit achtsamer Konzentration. Die Montage arbeitet mit ganz ähnlichen Prinzipien wie die Szenographie der Räume mit Wandzeitungen, hebt gewisse Motive in verändertem Abstand und Bildausschnitt hervor. 

Ulrike Ottinger hat viel mitgebracht aus Paris und diesen Jahren. Wo sie das Alles gelagert hat, ist mir ein Rätsel: Ihr Büro in Kreuzberg, das neben meinem Lieblingsitaliener im Südsternkiez liegt, mutet von außen so bescheiden und kompakt an. Die Spuren, die jene Zeit in ihren Filmen hinterlassen hat, sind jedenfalls umfangreich. Sie werden rasch sichtbar. Der Dada-Dichter Tristan Tzara tritt 1972 in ihrem ersten Kurzfilm „Laokoon und Söhne“ auf, ihr übernächster, „Die Betörung der blauen Matrosen“, basiert auf Texten von Apollinaire. Und dann besetzt sie mehrmals Delphine Seyrig, die antikapitalistische Ikone aus „Mr. Freedom“, in tragenden Rollen. Dafür bin ich der Regisseurin dankbar, denn ich durfte die wunderbare Schauspielerin einmal während einer Berlinale interviewen, auf der „Johanna D'Arc of Mongolia“ lief. Zudem schürt die Ausstellung meine Hoffnung, dass das Paris der 60er Jahre in ihrem neuen Film nicht nur ein Jahrzehnt Godards, sondern auch Chris. Markers sein könnten.

 

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