Eine Feuertaufe

Wer Volksvertreter nach ihren Lieblingsfilmen fragt, sollte auf Überraschungen gefasst sein. Das ist eine wunderbare Gelegenheit, mit unverhofften Antworten zu punkten. Auch böse Clowns können glaubhafte Bewunderer guter Filme sein. Es ist natürlich fraglich, ob Journalisten dabei immer die Wahrheit erfahren. Berufsbedingt geben sich Politiker gern volksnah und wollen ungern raffinierter erscheinen als ihre Wähler.

Diese Sorge kannte Björn Engholm nicht, als er vor einer halben Ewigkeit noch Filmtitel von Alexander Kluge im Munde führte und damit die hohen Ansprüche formulierte, die er an sich, seine Partei und das Wahlvolk stellte. "Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos" war mit Blick auf das weitere Schicksal der SPD jedoch eine ziemlich defätistische Einlassung. Deren Niedergang konnte leider auch Peer Steinbrück nicht verhindern, den einer meiner Redakteure beim Interview als exzellenten Filmkenner kennenlernen durfte. Seit der damalige Finanzminister mit begeisterter Akribie die Szene aus »Vier im roten Kreis« beschrieb, in der Yves Montand sein Gewehr vom Stativ nimmt, hat er sich einen festen Platz in meinem Herzen erobert. So etwas ist Kür, wo andere nur Pflicht kennen.

Vor einigen Tagen nun fragte die "Daily Mail" den Springteufel Boris Johnson nach seinen cinéphilen Vorlieben. Die Antwort ergab ein gemischtes Bild: »Dodgeball« mit Vince Vaughn fände er sehr witzig, ebenso wie »Der Rosarote Panther«. Aus diesem Bekenntnis ließen sich bereits interessante Schlüsse ziehen, etwa auf eine ungenierte Lust am Chaos. Im Hinblick auf seine rabiate Kabinettsumbildung scheint mir jedoch Johnsons absolute Lieblingsszene bezeichnender: Es sind die mehrfachen Vergeltungsmorde am Ende von Coppolas »Der Pate«.

So siegesgewiss, wie sich Johnson im Vorfeld der Abstimmung zum "Tory"-Vorsitz gab, dürfte dies keine absichtslose Plauderei gewesen sein. Sie klang wie eine Ermächtigungsphantasie. Mit dem Revirement des Kabinetts stellte er am Donnerstag sogar Harold Mac Millans legendäre »Nacht der langen Messer« von 1962 in den Schatten. Damals mussten sieben Minister ihre Posten räumen, Johnson hat gleich 17 gefeuert. Die britische Presse bezeichnete die Kabinettsbildung wahlweise als Blutbad oder Massaker. Der Schock saß wohl so tief, dass die Kommentatoren erst einmal tief Luft holen mussten, bevor sie Zweifel an der fachlichen Befähigung der Gefolgsleute anmelden konnten, die der neue Premierminister im Handstreich in die Ämter katapultierte. So oder so hat sich Johnson erst einmal als unerbittlicher Tatmensch gezeigt. Darin steht er Michael Corleone in nichts nach, der nach dem Tod von Vito die Familiengeschäfte übernehmen muss und in einer konzertierten Aktion Gegenspieler und Verräter ausmerzen lässt. Es ist die Sequenz, in der Michael auch im Wortsinne zum Paten wird: Der Sohn seiner Schwester Connie wird getauft. Das Perfide an dieser in der Tat souveränen Parallelmontage ist, dass Michael sich dabei zu seinem katholischen Glauben bekennt und dem Satan abschwört. Man kann sich Johnsons Genugtuung angesichts dieser Sequenz gut vorstellen, denn unterdessen läuft die Hinrichtung seiner Gegenspieler wie am Schnürchen. Es ist eine der einflussreichsten Schnittfolgen der Filmgeschichte, allein Coppola selbst hat die Erzählstrategie am Ende der zwei »Pate«-Fortsetzungen erneut aufgegriffen. Die Montage unterstreicht raffiniert die Unausweichlichkeit dieser Gewaltorgie, an deren Schluss auch Carlo, der verräterische Vater des Taufkindes, erdrosselt wird. Eine der großen, furchtbaren Gaben, die das US-Kino seit eher besitzt, ist die Legitimation von Gewalt. 

In diesem Zusammenhang ist Johnsons Wortwahl im Interview mit der "Daily Mail" aufschlussreich. Johnson spricht von "retribution killings". Vergeltung und Strafe klingen ja gleich viel nobler als Rache. »Der Pate« ist übrigens auch der Lieblingsfilm von Barack Obama. Wie es sich gehört, zählt er den zweiten Teil noch hinzu (den dritten mag er verständlicherweise weniger). Der zweite »Godfather« erzählt nicht nur die Familiensaga weiter, sondern revidiert sie nachhaltig, in dem er die Korrumpierung Michaels zu ihrem konsequenten Ende führt: Er ist ein gebrochener Mann, der seinen ethischen Kompass verloren hat. Zu Beginn des ersten Teils war er noch ein Idealist, der sich von den kriminellen Machenschaften seines Clans distanzieren will. Das Erbe und mithin die Blutrache werden ihm auferlegt. Johnsons glücklose Vorgängerin, Theresa May, hätte dieses Dilemma bestimmt verstanden.

Ich bezweifle, dass Johnson ein Gespür für derlei Ambivalenzen besitzt. Viel wahrscheinlicher ist, dass er sich einfach vom mythischen Sog der Saga mitreißen lässt. Obzwar er ein Brite ist, träumt dieser Wüterich bestimmt ebenfalls von jener "manifest destiny", die das US-Kino so eindrücklich zu beschwören weiß. Dieser Staatsmann will den Brexit durchziehen, no matter what. Er spielt ganz auf Risiko. Er sieht sich als Protagonist einer Feuertaufe; die Zerstörung ist für ihn die Voraussetzung dafür, dass etwas Neues entsteht. Das Vereinigte Königreich soll wieder ein großartiges Land werden. Allerdings dürfte die Vergeltungsmorde-Montage für einen Politiker seines Schlages noch ein weiteres Phantasma darstellen. Sie erteilt ihm eine Lehre: Das, was man sagt, kann getrost das Gegenteil von dem sein, was man tut.

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