Der entfesselte Körper

Der Nacken zählt, das wissen Ärzte ebenso gut wie Henker, zu den verletzlichsten Regionen des menschlichen Körpers. In ihm konzentriert sich dessen Anspannung, weshalb er auch für die Filmkamera von brennendem Interesse ist. Der Philosoph Emmanuel Lévinas hielt ihn für einen so aufschlussreichen Spiegel des Inneren, dass er ihn kurzerhand dem Gesicht zuordnete.

Das wirft fürs Kino die entscheidende Frage nach der Perspektive auf. Ist die Kamera auf die Rückenansicht fixiert, bleibt das menschliche Antlitz notwendig unsichtbar. Dahinter steckt eine verdrießliche Spannungsdramaturgie, ein Suspense des Vorenthaltens: Es muss später ergründet werden. Die Brüder Dardenne, deren Kino den Lehren Lévinas' viel zu verdanken hat, greifen häufig auf diese Technik zurück, um dem sozialen Unrecht auf die Spur zu kommen. Besonders eindrucksvoll gelingt ihnen das in „Der Sohn“, wo die Kamera eingangs Olivier Gourmet unablässig in Rückenansicht folgt. (Kein Wunder, dass der von ihm gespielte Schreiner orthopädische Probleme hat.) Unter Filmkritikern kursierte seinerzeit das geflügelte Wort, den Darstellerpreis in Cannes habe eigentlich Gourmets Nacken gewonnen Es dauert tatsächlich unvorstellbar lang, bis man endlich sein Gesicht zu sehen bekommt. Der Nacken ist ein Hindernis, das sich der Kamera in den Weg stellt, bevor sie, wie nach dem Aufbruch einer Blockade, endlich den Rest des Schauspielers entdeckt.

Was für ein großartiges Mittel das ist, den Elan einer Figur zu etablieren, führt Akira Kurosawa in „Rashomon“ vor. Toshiro Mifunes Nacken spielt dann noch mehrmals, besonders im Auftakt von „Yojimbo“, eine glorreiche Rolle. Und wo wir gerade in Japan sind: In Sam Fullers „House of Bamboo“ (Tokyo Story) wird diese Körperregion zum Spielfeld einer verfeinerten Sinnlichkeit. Die Geisha Shirley Yamaguchi gesteht dem rüden Amerikaner Robert Stack, nicht seine Muskeln und breiten Schultern würden sie anziehen, sondern sein Nacken, der aus dem Kimono hevorschaut: der einzige Teil seines Körpers, auf den ihr ein Blick gestattet war.

Der Ungar Laszlo Nemes ist derzeit der unangefochtene Meister dieser Spielart der Körperinszenierung. Er bedient sich ihrer noch hartnäckiger als die Dardenne-Brüder. Auch für ihn stellt sich die Frage nach der Welthaltigkeit, die bei so radikaler Beschränkung noch fassbar ist. Dabei hat er überdies eine metaphysische Dimension im Auge. Unendlich lang sitzt die Kamera in seinem Langfilmdebüt „Son of Saul“ dem KZ-Häftling Saul Ausländer im Nacken, der in Auschwitz seinen Sohn sucht. Ebenso verfährt Nemes nun in „Sunset“, der vom Abstieg in eine andere Hölle erzählt. Patrick Seyboth geht in seiner Kritik im Juni-Heft gründlich auf diese Kamerastrategie ein und trifft dabei kluge Unterscheidungen zwischen ihrem jeweiligen Einsatz in Nemes' Filmen. In Thomas Abeltshausers Interview spielt die Kameraästhetik ebenfalls eine wichtige Rolle. Es führt kein Weg vorbei an der Auseinandersetzung mit ihr.

Nemes' Blick auf den anmutigen Nacken seiner Hauptfigur ist schon einmal insofern interessant, als sie von Beruf Hutmacherin ist. Das stellt ein kurios zuversichtliches Element dar in der Untergangsschwere des Films, unterstreicht ihren tückisch lichten, sommerlichen Aspekt: Wer sich einen eleganten Hut kauft, macht sich wenig Sorgen um die kommenden Jahre. Für die Subjektivierung des Blicks ist das Requisit also nicht unerheblich. Der Angelpunkt der Inszenierung bleibt indes Irisz' Nacken. Wir nehmen diese Welt in ihrem Gefolge wahr. Nemes lässt daraus eine Komplizenschaft des Befremdens entstehen. Irisz agiert als Detektivin in eigener, familiäre Sache ebenso wie im Ergründen der Historie: furchtsam und entschlossen zugleich. Die Klaustrophobie, die Patrick schildert, spielt dem zu.

In Nemes' Autopsie der Donaumonarchie wird das Unbewusste entfesselt; sie steht Joseph Conrad näher als Joseph Roth. Der subjektive Blick gebiert eine wuchtige atmosphärische Präzision. Die langen, ausdauernden Kamerafahrten bringen Real- und filmische Zeit in Übereinstimmung, müssten mithin für Realismus bürgen. Nemes nutzt sie aber als Sprungbrett zur Erkundung einer gespenstischen, trugbildhaften Wirklichkeit. Deren Schrecken lassen sich nicht dingfest machen. Das Ambiente liegt dank der unbedingten Konzentration meist außerhalb des Schärfebereichs. Jedoch ist es mehr als nur schemenhaft. Die aufstrebende, üppige Urbanität des Budapest der Vorkriegszeit ist eminent präsent; erst recht als geflüstert polyglotte Tonkulisse. „Sunset“ ist kein Kostümfilm, sondern eine rauschhafte Vergegenwärtigung des Erloschenen.

Nemes hat dafür ausschließlich Realschauplätze benutzt. Nicht einmal das Interieur Opulenz der des Hutsalon Leiter wurde im Studio errichtet. Die Außen- und Innendekors kommunizieren unablässig miteinander. Die Tram, die Irisz einmal in die frühabendlich nebelverhangene Vorstadt bringt, ist genial eingesetzt. Ich vermute, Sie werden beim Sehen des Films nie ernsthaft an der Authentizität der Stadtansichten zweifeln. Die vom Streben nach der Moderne verwüstete Urbanität Budapests wirkt intakt. Sie ist ein Schmelztiegel, gewiss noch etwas chaotischer als Wien zur selben Zeit. Obwohl es fraglich ist, ob der Regisseur über ein exorbitantes Budget verfügen konnte, setzt er es doch verschwenderisch ein. Am stärksten beeindruckt hat mich in dieser Hinsicht die Szene, in der Brill, der neue Eigentümer des Salons ihrer Eltern, Irisz fortschicken will.

Er bringt sie nicht zum Bahnhof, sondern zur Ablegestelle eines Donaudampfschiffes. Ein Zug aus der Epoche hätte sich zweifellos leichter auftreiben lassen. Aber Nemes will es anders. Er zeigt nur das obere Deck, geradezu flüchtig, für die Dauer einer kurzen Einstellung. Es ist prachtvoll. Gute Szenenbildner wissen, dass sich Bedeutung und Wirkung eines Dekors nicht nach der Zeit bemessen, in der sie auf der Leinwand zu sehen sind. In diesem Punkt muss ich Patricks Kritik widersprechen. Nemes interessiert sich sehr wohl für die Opulenz der Szenerie. Er nimmt sie vielmehr diskret in den Blick. So konzentriert dieser auch ist, die Welt blendet er nicht aus.

 

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