Bist Du ein Schwamm oder ein Stein?

»Withnail & I« (1987)

Die National Portrait Gallery in London sammelt seit 1856 nicht nur Bildnisse von historischer und künstlerischer Bedeutung, sondern trägt auch Sorge dafür, dass das menschliche Antlitz nicht ganz aus der Gegenwartskunst verschwindet. Zu diesem Zweck lobt sie seit gut vier Jahrzehnten einen Preis aus. Ein Freund brachte mir den diesjährigen Katalog mit, weil wir kurz zuvor über einen der Porträtierten gesprochen hatten: Bruce Robinson.

Die Ankündigung des Filmfestivals Oldenburg, ihm die diesjährige Retrospektive zu widmen, erweckte vor einigen Wochen mein Interesse an ihm wieder. Ich hatte ihn ein wenig aus den Augen verloren, was nicht schwerfiel, da es die Filmindustrie ebenso tat. Sein Comeback als Regisseur von »The Rum Diary« entriss ihn leider nur kurz und bislang folgenlos dem Verschwinden. 17 Jahre waren damals vergangen, seit er zuletzt Regie geführt hatte, bei »Jennifer 8«, was offenbar eine so traumatische Erfahrung gewesen sein muss, dass der Szenarist von »The Killing Fields« und Auteur von »Withnail and I« dies Metier eigentlich für immer aufgeben wollte. Umso erfreulicher, dass man sich in Oldenburg an ihn erinnert. Sowieso ein wunderbar trüffelschweinhaftes Festival, mit ausgefallenen Ideen für Retrospektiven und einem aktuellen Programm, das auch nicht ohne ist.

Die Einreichungen für den Londoner Preis werden den Jury-Mitgliedern zunächst anonym vorgestellt, erst im zweiten Wahlgang dürfen sie die Namen der Maler und Porträtierten erfahren. Ich vermute, wenige der Juroren werden Robinson auf Anhieb identifiziert haben, obwohl er in Großbritannien eine Figur von öffentlichem Interesse und beträchtlicher Sichtbarkeit ist. Zuletzt erregte er 2015 Aufsehen mit einem 1000seitigen Buch, in dem er einen neuen Verdächtigen im Fall Jack the Ripper präsentiert. Dafür will er 15 Jahre lang recherchiert und eine halbe Million Pfund aus eigener Tasche ausgegeben haben. Das muss nicht stimmen, passt aber zu seiner Maßlosigkeit. Das Ergebnis seiner Nachforschungen verärgerte angestammte Ripperologen und brachte die Freimaurer in Rage, weil er sie einer Verschwörung bezichtigte, um den wahren Täter zu schützen.

Auch ich konnte Robinson zuerst nicht auf dem Bild erkennen, das Alistair Adams sich von ihm gemacht hat. Gewiss, die Haare, die so struwellig wie seine Karriere sind, verraten ihn rasch. Aber sein Anblick ist so ganz anders als der Eindruck, den man auf Fotos und in der ziemlich ergiebigen Channel-4-Dokumentation »The Peculiar Memories of Bruce Robinson« (auf YouTube zu sehen) gewinnen kann. Da wirkt er wie ein gut konservierter Rockstar, dem Jahrzehnte des Raubbaus an eigenen Körper nichts anhaben konnten. Seine ein halbes Jahrhundert andauernde Karriere hat Robinson nicht nur als Schauspieler, Drehbuchautor, Regisseur und Romanautor bestritten, sondern zugleich als beständiges und anspruchsvolles (nur die besten französischen Rotweine kommen für ihn in Frage) Saufgenie. Das Leben ist zum Glück manchmal ungerecht.

Bislang konnte man also noch die feinen Gesichtszüge des jungen Leutnants erahnen, dem Isabelle Adjani 1975 in »Die Geschichte der Adèle Hugo« verfallen ist. Ein hinreißender Schauspieler war Robinson nie, bei Truffaut wirkt er gar ziemlich verlegen, muss anfangs ständig auf den Exerzierstock als Rettungsanker zurückgreifen. Er sieht blendend aus, aber sein Charme bleibt eine Behauptung. In Oldenburg lief statt dessen Carlo Lizzanis gar nicht so eurotrashiger, aber hinreichend bizarrer »Kleinhoff Hotel«, wo er wiederum zum Objekt weiblicher Nachstellung wird. Die hellhörigen Zimmer der Herberge sind ein denkbar unplausibles Versteck für einen Terroristen, aber Robinson ist nicht schlecht in seiner Mischung aus hochmütigem Zorn, existenzialistisch angehauchter Verzweiflung und trotziger Zärtlichkeit: ein gefallener Engel, den die Frauen davor retten wollen, noch tiefer zu fallen.

Ihn nun auf dem Gemälde zu sehen, war ein Schock. Er wirkt ausgezehrt. Adams' fotorealistischer Stil lässt unerbittlich jede Falte sichtbar werden. Erschöpft lehnt er sich in einem samtenen Sessel zurück und schaut den Betrachter skeptisch an. Die Lippen presst der Ruhende missmutig aufeinander. Schwer zu sagen, welche Erwartungen in seinem Blick liegen; eine sachte Herausforderung geht zweifellos von ihm aus. Vielleicht erging es ihm ja wie Pranh, dem kambodschanischen Reporter aus »The Killing Fields«, der nicht lächeln mag, als ihn sein amerikanischer Kollege Sydney Shanberg fotografieren will.

Ein gutes Porträt, heißt es, sagt mehr über den Maler aus. Aber da es hier nicht um Adams geht, will ich das Diktum umwidmen auf die Charaktere, die Robinson gezeichnet hat. Das geht nicht ohne weiteres, denn ein Drehbuchautor schreibt naturgemäß immer mehrere. Sämtliche Bücher Robinsons beruhen auf der Opposition gegensätzlicher Figuren. In dem hoch autobiographischen »Withnail and I« ist er eigentlich Letzterer. Aber der extrovertierte, aggressive Elan Withnails scheint seinem Temperament viel mehr zu entsprechen, zumal er in Richard E. Grant einen eminent sarkastischen Darsteller fand, der seinen Zorn auf das Thatcher-England hinausschreit. Vielleicht steckt er ohnehin eher im Konfrontativen, in den Konflikten, die er zwischen seinen Charakteren schürt.

Als »Withnail and I« Ende der 1980er bei uns herauskam, sagte er mir nicht viel. Später konnte ich nicht recht verstehen, weshalb er in Großbritannien plötzlich solchen Kult-Status errang. Es fiel schwer, die Provinzeskapade zweier arbeitsloser, zugedröhnter Schauspieler hochzurechnen auf ein Generationenporträt. Ich mochte Grants Großspurigkeit damals nicht; nun hatte ich mehr Vergnügen an seinen Tiraden. Besonders mag ich den Moment, als er sich über russische Stücke beklagt ("Immer nur Frauen, die in die Ferne starren und über Enten jammern, die nach Moskau gehen!") und die Kamera die zwei Kameraden danach in einer Totalen der verregneten britischen Landschaft erfasst. Drollig, dass sie ständig bestreiten müssen, aus London zu kommen. Großartig ist die Szene, wo die zwei abgerissenen Störenfriede die Gäste der Teestube brüskieren, in dem sie "the best wines known to mankind" verlangen. Verblüfft hat mich die existenzielle Frage, mit der Withnails schwuler Onkel Monty den namenlosen I anmacht: "Are you a sponnge or a stone?" Mit ihr übrigens wollte Franco Zeffirelli 1967 den jungen Schauspieldebütanten verführen, den er als Benvolio in »Romeo und Julia« besetzte.

Angesichts der ganzen Bohème-Rauschhaftigkeit versteht man schon, weshalb Johnny Depp ihn unbedingt für »The Rum Diary« haben wollte. »Withnail and I« sei der einzige Film, sagt er in der Channel-4-Sendung, über den er wirkliche Kontrolle hatte. (Sie entstand vor seinem Comeback.) Ansonsten müssen seine Erfahrungen in der Filmbranche verheerend gewesen sein, er schildert sie in der Doku lebhaft als die klassische Kaskade des Verrats, der Eingriffe und Entstellungen. Ob er beim Sitzen für seinen Porträtisten an die Demütigungen dachte, die ihm Hollywood zufügte? Oder an die 40 unverfilmten Drehbücher in seinem Arbeitszimmer? Dazu wirkt er doch zu gelassen auf dem Bild. Vielleicht lässt er das alles heute an sich abprallen.

In meinen Augen fällt seine Bilanz ohnehin glücklicher aus. »Jennifer 8« mochte ich damals sehr, weil er ein guter Andy-Garcia-Polizeifilm war (eine obsessive, zwischen Aggressivität und Beherrschung schillernde Figur) und Uma Thurmans Rolle der blinden Zeugin schöne Widerhaken hatte. Als ich in meine damaligen Notizen schaute, sah ich, dass ich mir praktisch nur aufgeschrieben hatte, wie gestisch einfallsreich er Zigaretten einsetzte. Die waren schon 1993 im US-Kino verpönt. Außerdem war mir Conrad Halls großartige Kameraarbeit aufgefallen, der Widerstreit zwischen blendendem Gegenlicht und undurchdringlichem Helldunkel, das Spiel mit dem Augenschein.

Robinsons schlimmstes Erlebnis muss vier Jahre davor »Fat Man und Little Boy« gewesen sein, für den er alles über den Bau der Atombombe gelesen hatte. Im Zentrum seines Buchs sollte die Ermordung von J. Robert Oppenheimers Geliebter durch das FBI stehen, wieder eine Ruine ambitionierter Pläne, wieder exzellent (von Vilmos Zsigmond) fotografiert. »The Killing Fields« hingegen, seine erste, noch glückliche Zusammenarbeit mit Roland Joffe, scheint Robinson gelten zu lassen. Ich denke, er ist nicht nur stolz auf ihn, weil er ihm viele Preise und fast einen Oscar einbrachte. Er trägt, im Guten wie im Schlechten, seine Handschrift. Sein erster Entwurf war ein Trumm von 350 Seiten, leidenschaftlich recherchiert, aufgesogen wie ein Schwamm, wütend und traurig. Daraus wurde einerseits ein Stück ziemlich hemmungslosen Betroffenheitskinos (weinende Kinder in Kriegswirren sind immer eine sichere Bank), das allerdings auch viel anzuklagen hat, die infame Kambodscha-Politik der Nixon-Administration und dann die barbarische Replik der Roten Khmer darauf. Diese Pflicht absolviert Robinson mit Nachdruck und Geschick. Die Szene, in der Pranh aus dem Umerziehungslager flieht und sich in einem See voller Hingerichteter wiederfindet, ist klug aufgebaut. In der Totalen ahnt man nur, wo er sich befindet, das Grauen bleibt fast abstrakt, erst als er in eine Grube stürzt, erfasst man es unmittelbar.

Man spürt, dass Robinson sich wirklich für die Begegnung unterschiedlicher Kulturen interessiert und dass ihm Pranh näher steht als der arrogante New-York-Times-Journalist Shanberg. (Es wird ihm gewiss gefallen, dass ein Namensvetter seines kambodschanischen Helden, Rithy, nun zum filmischen Chronisten der Gräueltaten der Roten Khmer geworden ist. Für Ironie hat er viel Sinn.) »The Killing Fields« fängt aus dessen Perspektive an, und er wäre ihr bestimmt gern noch konsequenter gefolgt. Wie unüberbrückbar die Welt der Privilegierten und die der Leidtragenden ist, demonstriert eine Szenenfolge zusammen, die ich wegen ihres pathetischen ihres Auftakts noch immer schwer ertragen kann: Shanberg schaut sich ein Video über Nixons doppelzüngige Politik an, während er Puccinis "Nessun Dorma" hört; dann gibt es eine Überblendung zum Lager, in dem Pranh gefangen ist. Als Robinson sie in der Dokumentation aus dem Drehbuch vorliest, versöhnt er mich fast mit ihrem Pathos: "Only Puccini survives the fade".

Sie ist allerdings wirklich bezeichnend für ihn, der sich selbst einen verachtenswerten Kaviar-Kommunisten schilt. Man merkt, wie schwer es im fällt, mit dem Schuldgefühl des besseren Lebens zurecht zu kommen. Er behauptet, immer nur Opfergeschichten zu erzählen, war selbst eines in seiner Kindheit (worüber man Erschütterndes in seinem Roman "Die merkwürdigen Erinnerungen des Thomas Penman" erfährt) und versucht mit jedem Buch, den Schmerz auszulöschen. Natürlich gelingt ihm das nicht, und ist sowieso nur die halbe Wahrheit. Ein faszinierender Autor ist er in seiner Widersprüchlichkeit. Wenn Monty sagt, er könne kein Fleisch anfassen, bevor es gegart ist und berichtet, ihm seien als Kind Tränen gekommen, sobald er an einer Metzgerei vorbeikam, findet das ein Echo in den Worten des Fotografen aus »Killing Fields«, der keine Austern mag, weil alles tot sein muss, bevor er es isst. Ein Stein kann das Leiden der Kreaturen aushalten, ein Schwamm nicht.

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