In Alarmbereitschaft

Funeral Parade of Roses (Pfahl in meinem Fleisch, 1969) © Cinelicious Pics

In den letzten Monaten hatte ich mehrfach Gelegenheit, mich mit dem Verhältnis des Kinos zu 1968 zu beschäftigen. Mein Augenmerk richtete sich fast ausschließlich auf die hierfür naheliegenden Kinematographien in West- und Osteuropa sowie Nord- und Lateinamerika. Die Wiederaufführung von »Funeral Parade of Roses« ist nun ein willkommener Anlass, den Blick nach Japan zu werfen.

Warum nicht schon früher?,muss ich mich nach der Wiederbesichtigung von Toshio Matsumotos Film fragen. In der Tat reagierte das japanische Kino emphatisch auf Umbrüche und Tumult der Zeit. Es tut dies sowohl unmittelbar wie verschlüsselt. Das lässt sich allein schon anhand charakteristischer Filmtitel aufzeigen, aus denen eine morbide, apokalyptische Gemütslage zu sprechen scheint, die in Widerspruch steht zur rebellischen Vitalität dieses Kinos: »Eros plus Massaker«, »Tod durch Erhängen«, »Doppelselbstmord«, »Das Inferno der ersten Liebe«, »Ein Mann verschwindet« und »Der Mann, der sein Testament auf Film hinterließ«. Mein persönlicher Favorit ist »Ekstase der Engel«, der zwischen Dies- und Jenseits schillert. Andere Titel greifen programmatisch auf, was in der Luft lag, etwa »Werft die Bücher weg und geht auf die Straße!«. Matsumotos Trauerzug, der ursprünglich unter dem sartrehaften »Pfahl in meinem Fleisch« bei uns herauskam, befindet sich da in bester poetischer Gesellschaft.

Rapid Eye Movies hat ihn schon vor anderthalb Wochen neu herausgebracht, in einer restaurierten Fassung, deren Kontraste weit weniger flau sind als auf meiner britischen DVD. Derzeit läuft er noch in zwei Berliner Kinos, in den nächsten Tagen dann in Mainz, Hannover und Bochum und später anderswo. Als er 1969, auf dem Höhepunkt der Studentenunruhen, in Japan anlief, wurde im vorgeworfen, er bliebe zu sehr dem Privaten verhaftet. Diese Kritik lässt sich ein halbes Jahrhundert später nicht mehr nachvollziehen. Er ist ungemein porös: Kino in Alarmbereitschaft. Allerdings hat er eine Handlung, die sich, was damals vielleicht gegen ihn sprach, nacherzählen lässt. Matsumoto inszeniert eine gleißende Dreiecksgeschichte, bei der die Drag Queen Eddie mit ihrer älteren Rivalin Leda um die Gunst des Nachtclubbesitzers und Drogenhändlers Gonda buhlt. Dieser Konflikt wird immer enger mit dem Ödipus-Mythos verknüpft, den Matsumoto sukzessive ins Spiel bringt und dem er mit blutrünstiger Konsequenz folgt. Das Finale konnte ich auch diesmal nicht offenen Auges ertragen.

»Funeral Parade of Roses« eröffnete dem Publikum Einblicke in Lebenswelten, die ihm aus dem Kino bis dahin gewiss nicht vertraut waren. Er betreibt Feldforschung in der Schwulenszene Tokios, die er als lebhafte, muntere Subkultur zeichnet. In Interviewpassagen vertrauen Transvestiten Erfahrungen und Selbstverständnis direkt der Kamera an. Matsumotos Subversion ist wesentlich eine ästhetische; er kommt vom Experimentalfilm. Bereits die Vorspanntitel dringen auf ungewöhnliche Weise in die Bilder hinein und der eigentliche Filmtitel wird, das dürfte damals ein Rekord sein gewesen sein, erst nach 20 Minuten eingeblendet. Die Sexszenen sind explizit und recht akrobatisch, ihre Anmut wird durch Überbelichtung oder Solarisation zugleich gebrochen und überhöht. Zuweilen entpuppen sie sich als Film-im-Film-Szenen, deren Darsteller danach, wie zur selben Zeit in Ingmar Bergmans »Passion«, über ihre Rollen sprechen. Zwischendrin blendet der Regisseur höhnisch das Siegel des Zensors ein. Er eröffnet Meta-Ebenen: Bei einem Sit-In soll will einer der Beteiligten über Jonas Mekas diskutieren, aber als dann Pot die Runde macht, lässt das Interesse daran schlagartig nach.

Matsumoto zieht alle Register, die der Verfremdung in den 60ern zu Gebote standen: Zeitraffer, Freeze Frames, Sprechblasen, literarische Verweise (Genet, Le Clézio - damals schon!) satirischer Musikeinsatz, schließlich der Wechsel zwischen Spielszenen und Dokumentaraufnahmen, von denen etliche nachinszeniert sind. Trauen darf man dem Film dennoch. Er kennt sich selbst sehr gut. Ich war mir nie ganz sicher, ob der Rückgriff auf den Ödipus-Mythos wirklich nötig und fruchtbar ist. Nun wirft dies Motiv für mich die Frage auf, ob die Figur des fehlenden Vaters im japanischen Nachkriegskino nicht eine ebenso bedeutende Rolle spielte wie im bundesdeutschen.

Noch ein anderer Aspekt tritt zum 50. Jubiläum von 1968 hervor: die Eroberung des öffentlichen Raums. Die Zeit schreibt sich nicht nur nebenbei in »Funeral Parade of Roses« ein. Die Nachrichtenbilder von Studentenprotesten gegen die Verlängerung des Sicherheitsvertrages zwischen den USA und Japan gehörten bereits zum Antlitz der japanischen Neuen Welle, die ein Jahrzehnt zuvor losbrach, zumal in Nagisa Oshimas »Nacht und Nebel über Japan« bilden sie eine unverzichtbare Grundierung. (Er musste alle zehn Jahre neu ausgehandelt werden.) Matsumotos Film, der nachdrücklich zwischen Innen und Außen changiert, stellt sie in einen Kontext der Performance-Art. Die Straße dient als Spielfläche, auf der agiert und die bemalt oder beschrieben werden kann. So geraten das Flanieren und die Einkaufstouren seiner unternehmungslustigen Transvestiten-Gang zu einer stolzen Geste der Rebellion: Schaut, wir sind da, so wie wir sind, furchtlos!

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