Vollendetes Glück

"I am at the Hospital, at the moment; nothing serious." lautet die Nachricht, die er vor genau einer Woche auf dem Anrufbeantworter meines Freundes Michael Omasta in Wien hinterließ. Dieses Lebenszeichen endete mit einem herzlichen Gruß in seiner Muttersprache: "Servus!"

Heute morgen leitete ich Michael arglos einen Artikel weiter, der gerade im "Guardian" über Wolfgang Suschitzky erschienen ist; voller Genugtuung, dass man sich seiner in der Exilheimat des außerordentlichen Fotografen und Kameramanns besinnt. "Ha, das hätte Wolf gefallen!" schrieb er mir zurück. Aber zu diesem Zeitpunkt wussten wir bereits, dass der Artikel sich am Ende als ein Nachruf zu erkennen gab. Der gebürtige Wiener wurde sage und schreibe 104 Jahre alt. In den letzten Jahren war er noch sehr rüstig gewesen, reiste beispielsweise zu der Fotoausstellung an, über die ich im November 2014 an dieser Stelle schrieb. "Spätes Glück" nannte ich den Eintrag seinerzeit, was nahe lag, da der Ausstellungstitel "I am a lucky man" lautete. Leider habe ich damals zu spät von der Eröffnung erfahren und Wolf Suschitzky nie kennengelernt. Dank Michaels lebendiger Erzählungen konnte ich mir gleichwohl ein gutes Bild von diesem Bildkünstler machen. Mithin wirkte das Bekenntnis des Ausstellungstitels überhaupt nicht trotzig auf mich, obwohl es aus dem Munde eines Menschen stammte, der seine Heimat an die Nazis verloren hatte. Vielmehr konnte ich mich der Gewissheit anvertrauen, dass es einer Aufrichtigkeit gegenüber den eigenen Erfahrungen entsprach. Seine Arbeit beweist stupenden Realitätssinn; seine ersten Schritte hatte er in der vitalen Dokumentarfilmbewegung des britischen Kinos unternommen.

Dem, was ich damals über seinen wachsamen, neugierigen Blick schrieb, muss ich heute gar nicht viel hinzufügen. Seither hat sich allerdings meine Annahme bestätigt, dass »The Small World of Sammy Lee« einer der großen London-Filme ist. Im Anschluss an den damaligen Text habe ich eine DVD-Box bestellt, auf der er enthalten ist, und weiß jetzt seine atmosphärischen Qualitäten um so mehr zu schätzen. Vielleicht ist es tatsächlich der sprichwörtliche Blick des Fremden, dem sich präzise die Stadt in ihrer Topographie und in ihren Stimmungslagen offenbart, diese geschärfte Aufmerksamkeit für alltägliche Details, die dem Einheimische selbstverständlich sind.

Die Gedanken, die ich mir im Laufe des heutigen Tages gemacht habe, gehen tatsächlich von dieser Fremdheit aus, die sich schaulustig einfühlen kann. Mir wurde bewusst, wie offen das britische Kino seit den 1930er Jahren für Exilanten und Migranten war. Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Gastfreundschaft weit größer war als beispielsweise in Frankreich, wo sich antisemitische Ressentiments gegen die Flüchtlinge aus Nazideutschland in unverhoffter Weise Bahn brachen. Im Gegenzug hat das britische Kino enorm von der Durchlässigkeit profitiert. Man denke nur daran, wie sehr die Präsenz von Schauspielern wie Adolf Wohlbrück (Anton Walbrook) oder Albert Lieven es bereicherte. Die Arbeit, die Szenenbildner wie Hein Heckroth und Ken Adam leisteten, war prägend. Die Trickfilmerin Lotte Reiniger (siehe meinen Eintrag "117" vom 2.6. 2016) fand bei der GPO große Entfaltungsmöglichkeiten, ebenso wie der Neuseeländer Len Lye und der Brasilianer Alberto Cavalcanti (siehe meinen Eintrag "Cinéphilatelie" vom 10. 12. 2015).

Fast kommt es mir vor, als sei der Traum von Europa in dieser Epoche seiner furchtbarsten Anfechtung lebendiger gewesen als heute. Wohin die Exilanten aus Deutschland flohen, war trotz aller Erschwernisse ein Ort der Verheißung. Wenn ich mich recht entsinne, bezeichnet das griechische "Europe" eine Gestalt mit einem weiten Blick. Dem heutigen Europa fällt es schwer, von einer gemeinsamen Zukunft zu träumen; die Gastfreundschaft lässt empfindlich nach. Seit dem Brexit zeigt sich in England eine Fremdenfeind-lichkeit, die Wolf Suschitzky zweifellos erschüttert haben wird. Seine Karriere jedoch stand für die Gültigkeit dieses Traums.

Meinung zum Thema

Kommentare

Die Offenheit des britischen Kinos für deutsche Exilanten in den 30er Jahren galt auch Fritz Kortner. Die Erkenntnis darüber, wie unfassbar viel er dort als Schauspieler gedreht hat, verdanken wir auch den engagierten Wiener Filmhistorikern.

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