Heiße Grenze

Peter Sloterdijk  © Rainer Lück

Wenn ich nach dem Schreiben dieses Eintrags und vor der Veröffentlichung einige Schlagworte in die Maske eintragen muss, werden da ziemlich fremde Bettgesellen aufeinandertreffen: MGM, Die Drei Musketiere, die Schwarze Liste, Madame Bovary, George Cukor, Robert Parrish, Robert Mitchum, der Mahdi, Sam Peckinpah – und Peter Sloterdijk, dem man an dieser Stelle bisher noch nicht begegnen musste. Beinahe hätte ich Angela Merkel vergessen.

Mithin trifft Hollywood hier auf Anthropologie, Philosophie und Politik. Gut gehen kann das nicht, aber aus aktuellem Anlass will ich versuchen, das alles unter einen Hut zu bringen. Wie einem Artikel Christian Schröders im Berliner "Tagesspiegel" zu entnehmen ist, meldete sich Sloterdijk gestern zur Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin zu Wort. Der Philosoph warnte vor einer "Überrollung Deutschlands". Im Einzelnen will ich auf seine Einlassungen nicht eingehen. Diese Sau wird in den nächsten Tagen noch mit der gebotenen Erregung durch die Feuilletons gejagt werden.

Ein Begriff fiel mir jedoch auf, der den Journalisten mächtig beeindruckte, ihm jedoch auch ein Rätsel aufgab: der "territoriale Imperativ". Vermutlich lese ich nicht die gleichen Bücher wie Sloterdijk, aber auch mir ist dieses Wort nicht unbekannt. Schließlich bin ich ihm oft genug in Monographien über Sam Peckinpah begegnet. Der führte ihn häufig im Munde; zumal im Zusammenhang mit »Straw Dogs – Wer Gewalt sät«. Es ist der Titel eines einst heftig diskutierten Bestsellers von Robert Ardrey, einem ehemaligen Dramatiker und Drehbuchautor, der sich, vom Filmgeschäft desillusioniert, in den 60er Jahren als Anthropologe neu erfand. Der territoriale Imperativ bezeichnet für Ardrey einen Grundimpuls des Menschen, der sich von dem der Tiere nicht wesentlich unterscheidet: seinen eigenen Lebensraum zu verteidigen bzw. den seiner Artgenossen erobern zu wollen. Ich habe meine Zweifel, ob sich aus Ardreys Befund tatsächlich ein "Lob der Grenze" ableiten lässt, wie es sich Sloterdijk für die aktuelle Debatte wünscht. Anderseits bin ich auch nicht sicher, ob er den Autor besser verstanden haben soll, als es Peckinpah tat.

Ardrey ist in der Tat eine interessante Gestalt. In seinen besten Filmarbeiten war er nicht der unerbittliche Darwinist, als den die Kritiker seiner Bücher ihn sahen. Er vertrat liberale, pluralistische Positionen. Seine Figuren wünschte er offene Grenzen. Zeitweilig stand er der Gewerkschaft der Drehbuchautoren vor und kämpfte in Hollywood und Washington erbittert gegen Kommunistenhatz und die Schwarze Liste. Für MGM hat er in den 40ern einige exzellente Filme geschrieben, darunter »Die drei Musketiere«, in dem Gene Kelly sich mindestens so leichtfüßig und temperamentvoll bewegt wie in seinen Musicals. Auch Ardreys Kunstgriff, den Prozess um »Madame Bovary« als Rahmenhandlung für seine Adaption zu nehmen (mit einem wie immer großartigen James Mason als Gustave Flaubert!), schätze ich sehr. Danach hat er an den Drehbüchern zu zwei Filmen mitgewirkt, die zu meinen absoluten Favoriten gehören: »Knotenpunkt Bhowani« (bei dem George Cukor allerdings seine erste Drehbuchfassung verwarf), einem der schönsten Cinemascope-Epen überhaupt, und Robert Parrishs erhaben melancholischen Western »Heisse Grenze«, der im Februar in Deutschland endlich auf DVD erscheint (und wohl auch endlich im korrekten Format – meine spanische Ausgabe ist in Vollbild, meine englische scheint mir nur ein Seitenverhältnis von 1:1.66 zu haben). Für »Karthoum«, in dem Charlton Heston den General Gordon spielt und Lawrence Olivier den Mahdi, erhielt Ardrey eine Oscar-Nominierung.

Alle drei Filme handeln von der Begegnung unterschiedlicher, auch feindseliger Kulturen. Aber sie tun es auf andere, differenziertere Weise, als es damals die Konventionen des Kinos und heute Sloterdijks Thesen vorsahen und -sehen. »Knotenpunkt Bhowani« erzählt vom friedlichen Widerstand der Inder gegen die britische Kolonialmacht aus drei Perspektiven: der eines jungen, aufbegehrenden Inders, einer Anglo-Inderin (Ava Gardner in einer ihrer besten Rollen) und eines britischen Offiziers (Stewart Granger, der nicht übermäßig sympathisch sein muss). Cukors Epos der persönlichen und politischen Zerrissenheit besitzt eine Vielstimmigkeit, die dem Zweifel, dem Zögern Raum gibt. »Heiße Grenze« wiederum ist ein verkanntes Meisterwerk. Der Originaltitel »The Wonderful Country« ist noch vielsagender, denn man weiß nicht, welches Land damit gemeint ist: die USA oder Mexiko, zwischen denen ein unerhört verletzbarer Robert Mitchum pendeln muss auf der Suche nach einer Heimat und seiner eigenen Identität. Auf den ersten Blick eine Tragödie der Zugehörigkeit, die ihre Hauptfigur aber mit nuancenreich geschilderten Freundschaften umfängt. Ich glaube, bis dahin war der Nachbar Mexiko in einem US-Film noch nie aus einem so aufgeklärten, zugeneigten und neugierigen Blickwinkel gezeigt worden wir hier. Peckinpahs Sicht war da eher ein Rückschritt. In Frankreich hat Bertrand Tavernier gerade den Roman von Tom Lea, auf dem »The Wonderful Country« beruht und den Ardrey achtsam adaptierte, mit einem wunderschönen Vorwort neu herausgebracht. Noch ein Name, den ich den Schlagworten hinzufügen muss.

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