Zeitverschiebung

Als ihn die französische Tageszeitung „Libération“ vor einigen Jahren bat, die Schlüsselereignisse seines Lebens aufzulisten, notierte er für das Jahr 1998: „Zum letzten Mal mit einem Taxifahrer geprügelt. Nun ist meine Jugend zu Ende.“ Im Jahr zuvor hatte er seinen 50. Geburtstag gefeiert, aber die Aussage muss man nicht als Koketterie nehmen. Denn in dieser Zeit fing Hou Hsiao-hsien an, Filme über eine jüngere Generation zu drehen.

„Ich hatte Lust, moderne Geschichten zu erzählen, fürchtete aber zugleich, es würde mir nicht gelingen, das heutige Lebensgefühl einzufangen“, erzählte mir der taiwanesische Regisseur einmal bei einem Interview. „Es scheint meinem Temperament zu entsprechen, in die Vergangenheit zu blicken. In Foto, ein Gegenstand wecken für mich augenblicklich Erinnerungen. Ein Freund sagte damals zu mir: 'Du hast die Gegenwart gefilmt, aber so, als würdest Du in zehn Jahren auf heute zurückblicken.' Mir ist klar geworden, dass ich für die Gegenwart einen anderen Rhythmus finden muss. Bei 'Millenium Mambo' habe ich entdeckt, was die Schilderung der Gegenwart für mich so schwierig macht: Sie erscheint mir fragmentiert, lässt sich erzählerisch schwer kontrollieren.“

Er ließ es geschehen, dass sein Werk mit einem Mal in Unordnung geriet. Bis dahin war es relativ klar nach Zyklen strukturiert; es mutet planvoll an. Hous frühe Filme aus den 1980er Jahren sind vielschichtige Beschwörung der eigenen Kindheit und des Heranwachsens. Über sie hätte ich an dieser Stelle eigentlich gern ausführlicher geschrieben. Aber ich bin leider spät dran mit dieser Hommage (da ist schlicht die Transatlantik-Reise dazwischen gekommen); erst jetzt fiel mir auf, dass die Retrospektive im Filmmuseum München schon seit einiger Zeit läuft und am kommenden Sonntag vorüber ist. Sein Frühwerk war dort bereits zu sehen. In ihm entfaltet er ein Panorama der Nachkriegsgesellschaft und der Brüche im Leben seiner Familie, die vor dem Bürgerkrieg aus Festlandchina floh, als er zwei Jahre alt war. Die Familie fungiert bei ihm stets als ein Vermittler zur Vergangenheit. In der Art, wie Hou Armut und Entwurzelung schildert, tritt er das Erbe des Neorealismus an. Er erzählt von einem Land auf der Suche nach der eigenen kulturellen Identität. Hous Charaktere befinden sich stets zwischen zwei Schauplätzen, im Transit zwischen Wohnhäusern, Dörfern oder Bahnhöfen. Darin spiegelt sich die Zerrissenheit seiner Inselheimat: zwischen der prekären Beziehung zum Mutterland China, dem Erbe der 51 Jahre dauernden japanischen Besatzung und der Tyrannei der Modernisierung. Hou erzählt dies nicht in den groben Pinselstrichen pompöser Geschichtsepen, sondern in der Feinschrift minutiös komponierter Bilder aus dem Alltagsleben seiner Charaktere.

Sie merken schon, ich vermeide es, lange über die verpasste Chance zu klagen. Vielmehr hoffe ich, noch rasch Ihre Neugierde auf diesen Regisseur zu wecken, dessen Filme in Deutschland fast nie zu sehen sind. Und in München laufen noch zwei Filme, die zu meinen absoluten Favoriten zählen: „Die Blumen von Shanghai“ und „Three Times“. Ersteren drehte er, nachdem er sich mit „Goodbye South, Goodbye“ (heute Abend zu sehen) der Gegenwart zuwendete. In „Die Blumen von Shanghai“ (Mittwoch) hingegen blendet er meisterhaft intimistisch zurück zum Beginn des letzten Jahrhunderts. In den langen, ausgreifenden Plansequenzen ist nicht immer augenblicklich erkennbar, wer die Hauptfigur ist. Der Zuschauer muss abwarten, wohin ihn die Inszenierung führen wird. Kamerafahrten und Schwenks sind nicht abgestimmt auf Dialoge oder Bewegungen der Schauspieler, sondern folgen der Atmosphäre.

Am Wochenende laufen „Millenium Mambo“ (Freitag) und am Tag darauf „Café Lumière“, eine Hommage, die er 2003 zum Jubiläum des 100. Geburtstags von Yasujiro Ozu in Tokio drehte. Den krönenden Abschluss der Filmreihe bildet am Sonntag der zwei Jahre später entstandene „Three Times“, wiederum ein Glanzstück atmosphärischen Erzählens, in dem er eine Quersumme seines bisherigen Werks zieht. In drei in unterschiedlichen Epochen spielenden Episoden vollzieht er die Grundbewegungen seines Kinos nach. „Ursprünglich sollten drei Regisseure die verschiedenen Geschichten drehen, „erzählte er. „Ich wollte die Episode von 1966 inszenieren. Das war etwa die Zeit, als ich selbst meinen Militärdienst ableisten musste. Die Episode von 1911 und die in der Gegenwart habe ich verändert, als sich kein anderer Regisseur fand. Als eine Summe war der Film nicht geplant, aber ich habe beim Drehen bemerkt, wie sehr ich mit jeder neuen Phase einen anderen Blick kultiviert habe.“

Das stimmt zwar. Wiedererkennbar ist seine Handschrift jedoch in jedem seiner Filme. Stets schlägt die Wahl der Einstellungsgröße und oder des Kamerawinkels um in eine Moral des Erzählens, offenbart sich in der Entscheidung über Nähe oder Distanz zu den Figuren eine eigene Weltsicht. Hou Hsiao-hsien ist ein Meister der Bildkomposition, der seine Charaktere stets in ein ausdrucksvolles Verhältnis setzt zum Bildraum, um sie so in ihren gesellschaftlichen oder historischen Rahmen zu stellen. Den Schauplätzen wächst eine machtvolle Präsenz zu, oft liegt eine Fatalität über den Einstellungen, lastet die Umgebung wie ein Schicksal auf den Charakteren. Wie seine Landsleute Edward Yang und Tsai Ming-liang knüpft Hou an Traditionen der chinesischen Malerei an, wenn er seine Figuren in der Tiefe und Breite der Leinwand staffelt. Er segmentiert die Einstellungen durch Rahmen, Fluchten und Fenster und isoliert so die Charaktere. Bei einem derart gebrochenen Blick kann deren Abwesenheit ebenso bedeutsam sein wie ihre Präsenz.

Wie es scheint, gibt er mit seinem neuesten Film, der gerade in Cannes Premiere feierte und mit dem Regiepreis ausgezeichnet wurde, seinem Kino eine ganz neue Richtung: „The Assassin“ ist ein Kostüm- ein Kampfkunstfilm. Die Ausschnitte, die man im Internet sehen kann, versprechen ein visuelles Fest. Ich glaube, in diesem Jahr bin ich auf keinen Film so gespannt wie auf diesen. Es ist höchste Zeit, dass hier zu Lande ein Film des Meisters aus Taiwan endlich einmal regulär im Kino anläuft!

 

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