Unter dem Scheffel

Mitunter stehe ich gern Schlange. Nicht unbedingt auf Festivals, wo alle Welt sich in einen Film drängt. Bei anderen Gelegenheiten hingegen freut es mich, wenn zahlreiche Menschen meine Neugierde auf ein kulturelles Angebot teilen. So machte mir der Regen nicht viel aus, als ich am letzten Sonntag lange vor dem Berliner Willy-Brandt-Haus warten musste, um endlich in die Ausstellung eingelassen zu werden, in der Fotos von Vivian Maier zu sehen sind.

Vielleicht hätte ich meine ebenso wacker ausharrenden Schicksalsgenossen ausfragen sollen, was sie hierhin trieb. Aber ich war eigentlich nicht als Journalist hier, sondern als Schaulustiger. Was nur zur Hälfte stimmt, wie Sie dem Umstand entnehmen können, dass ich darüber schreibe. Meine Begleiterin und ich gingen nicht unschuldig in die Schau, sondern hatten uns einige Tage zuvor den Film über die Fotografin angesehen, den ihr postume Entdecker John Maloof gedreht hat. Bestimmt hatten auch einige der anderen Wartenden "Finding Vivian Maier" gesehen oder vielleicht mitbekommen, dass er für den Dokumentarfilm-Oscar nominiert war. Ihr Ruhm hat sich ohnehin wie ein Lauffeuer verbreitet. Die Fotografin, die zeitlebens keines ihrer Bilder ausstellen wollte, ist in kürzester Frist zu einer Legende geworden. Einige waren vielleicht hier, um das Geheimnis ihres Lebens und Schaffens zu ergründen. Es ist selten, dass die Kunstwelt von einer solch spektakulären Neuentdeckung erschüttert wird. Da darf sich jeder Ausstellungsbesucher als Pionier fühlen, dessen Blick auf Reichtümer fällt, die noch unverbraucht sind. Jeder, da bin ich sicher, erwartete an diesem Tag, großartige Fotos zu sehen.

Ich hatte im Vorfeld viel über Maier und die aufsehenerregende Karriere gelesen, die ihrem Werk nach ihrem Tod beschieden war. Aber nie wäre ich auf die Idee gekommen, dass Maloof bei der Bergung ihres Nachlasses gerade einmal 26 war. So jemandem hätte ich mindestens zwei, drei Jahrzehnte mehr unterstellt. Er sieht aus wie ein Nerd, war bis dahin offenbar in der Immobilienbranche tätig. Man darf seinen Instinkt bewundern und die Beharrlichkeit, mit der er Propaganda machte für eine völlig unbekannte Künstlerin. Durch das anfängliche Desinteresse von Museen und anderen Institutionen ließ er sich nicht entmutigen. Der Erwerb des Konvoluts bei einer Auktion hat ihn ziemlich reich gemacht, und seine Auswertung dürfte ein Vollzeitjob sein. Im Film wirkt er selbst mächtig beeindruckt von dem, was er da in Gang gesetzt hat. Nun gehen Maiers Fotografien um die Welt. Dass auch ihr Talent etwas damit zu tun hat, verschweigt Maloof nicht. Toll, wie Mary Ellen Mark und Joel Meyrowitz die Bilder ihrer ungekannten Kollegin beschreiben. "She didn't defend herself as an artist," heißt es einmal, "she just did the work". Natürlich ist es faszinierend mutzumaßen, weshalb sie ihr Talent verbergen wollte. Dennoch hadere ich im Nachhinein mit dem Bild, das der Film vermittelt, mit der Art, wie er ihre Fotos als Indizienbeweise nutzt, um einem Menschen auf die Schliche zu kommen, der unergründlich bleiben wollte. Der Aufhohlbedarf scheint immens. Aber ein derart unerschlossenes Werk muss noch nicht so rasch gebannt werden.

Unvoreingenommen werden wohl nur wenige Besucher in Ausstellungen von Vivian Maiers Arbeiten gehen. Als wir den Film sahen, meinte meine Begleiterin, die Leute in ihren Bildern wirkten auf sie, als seien sie in die Welt geworfen. Den Eindruck fanden wir in der Auswahl von rund 120 Fotos bestätigt. Überhaupt illustriert die Schau Vieles, das der Film nahelegt - informiert aber zugleich auch über biographische Details, die unter den Schneidetisch fielen. Es ist wunderbare Straßenfotografie, humanistisch, klug anekdotisch, voller Wehmut. Sie fotografierte unvermittelt, was sie sah. Ihr Sinn für Komposition ist großartig. In Porträts bleibt das Ambiente präsent. Ich glaube, bei ihrer Arbeit ging es darum herauszufinden, wie nahe man den Anderen mit der Kamera kommen kann. Ihre zahlreichen Selbstporträts bereiten mir ein Unbehagen, das es auszuhalten gilt: Von diesen bekümmerten Augen in diesem verhärmten Gesicht fixiert zu werden, macht mich befangen. Was sie in der Welt entdeckt, finde ich faszinierend genug; ich wünschte, sie hätte sich selbst mehr aus dem Spiel gelassen. Das ist vielleicht nur eine Abwehrgeste gegenüber der Interpretationswucht, die längst von ihrer Arbeit Besitz ergriffen hat. Wer weiß, welche weiteren Facetten sich bei gewissenhafter Sichtung ihres Werkes noch offenbaren?

Das Erfreuliche an einer Erfolgsgeschichte wie der Vivian Maiers ist in meinen Augen, dass die Kunstgeschichte nicht umgeschrieben, sondern ergänzt werden darf. Die anerkannten Meister müssen Platz schaffen, ohne dass der ihre enger wird. (Ich persönlich hätte übrigens gar nichts dagegen, wenn die fabelhaften New-York-Fotos, die Sabine Weiss in den 50er schoss, mal etwas mehr Furore machen würden.) Solche spektakulären Entdeckungen sind im Kino naturgemäß schwer möglich. Allein der finanzielle Aufwand und die Anzahl der Beteiligten steht schon dagegen, dass ein bedeutender Filmemacher sein Werk im Verborgenen schafft. Aber auch unter dem Radar der Filmgeschichtsschreibung fand Einiges statt, dass der Rehabilitation harrt. Momentan bin ich wieder in Paris (wo ebenfalls eine Vivian-Maier-Ausstellung zu sehen ist) und mein Weg führt mich in den letzten Tagen häufig in die Fondation Jerome-Seydoux-Pathé im 13. Arrondissement. Das ist auch eine Institution, die es versteht, ihr Licht unter den Schatten zu stellen. Davon kann bei späterer Gelegenheit noch die Rede sein, denn das dortige Kino mausert sich allmählich zu einem meiner Lieblingsorte in Paris.

Die Stiftung widmet sich der Pflege des Stummfilmerbes des Konzerns Pathé, der bis zum Ersten Weltkrieg marktführend war. Aktuell laufen dort Filme von René Leprince, dessen Name mir beim Lesen französischer Filmgeschichten womöglich schon untergekommen ist, von dem ich bislang aber keine Notiz nahm. Er war zeitlebens Studioregisseur (auch eine Art, sich unsichtbar zu machen) und starb, bevor sich der Tonfilm durchsetzte. Drei Filme habe ich von ihm gesehen (ein immerhin vertrauenswürdigerer Prozentsatz als die Fotos, die man aus dem Nachlass Maiers kennt). Für sie musste ich nicht Schlange stehen. Allerdings hat sich die Anzahl der Besucher von fünf am ersten Tag heute zunächst auf ein Dutzend und dann auf zwei Dutzend gesteigert. Die drei Filme sind Gesellschaftsmelodramen. In zwei ("Vent Debout"/ Gegen den Wind und "La fièvre de l'or"/Goldfieber) werden Anleger von einer Bank um ihre Investitionen betrogen; die Dramaturgie des letzteren folgt dem Rhythmus von Hausse und Baisse an der Börse. Während Maiers Fotos im öffentlichen Raum entstanden sind, suchen Leprince' Filme das Intime im Interieur von Salons, Hotellobbys oder Boudoirs. Die Entsagung spielt in ihnen eine andere Rolle als bei Maier. Es sind Gebrauchsfilme aus einer vergangenen Epoche, in denen die Aufgabe des Regisseurs vornehmlich darin bestand, die prachtvollen Dekors und den Ausdruck der Darsteller zur Geltung zu bringen.

Einige Situationen inspirieren Leprince mehr als andere. Die nächtliche Sause zweier Freunde in "Vent debout" ist überaus einfallsreich inszeniert - wie viel er über deren Unternehmungslust allein in der Konzentration auf die Schuhe der Beteiligten erzählt, ist vergnüglich. Die Kontraste zwischen Licht und Dunkel in einigen Szenen aus "Le fièvre de l'or" atemraubend. Spuren einer eigenen Handschrift sind durchaus zu erkennen: Die Bankszenen in dem Film zeigen, wie lebendig bei ihm die zweite Ebene in der Bildtiefe sein kann. Er dreht gern Aufsichten, mit denen er die Akteure von ihrem Ambiente absetzt. Spiegel setzt er bisweilen gewitzt, bisweilen schicksalsträchtig ein. Wie beim Finale von "Tentation" (Verlockung, 1929) das Zuziehen von Vorhängen ein fatales Signal aussendet, ist eine Glanzstunde der Abenddämmerung des stummen Kinos. Der Totentanz in der Schlusseinstellung ist beklemmend. Anscheinend mochte Leprince Katzen sehr. Sie schmiegen sich in die unterschiedlichsten Momente hinein. Solche Vorlieben haben noch keinem Regisseur geschadet.

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