Beschwert

»Made in France«

Vor zwei Tagen saß ich in der Kirche hinter einer Reihe von Konfirmandinnen. Es war am Totensonntag, der neuerdings gern Ewigkeitssonntag genannt wird. Der Großteil der Gemeinde war versammelt, weil er im zu Ende gehenden Kirchenjahr einen lieben Menschen verloren hatte. Den zahlreichen Konfirmanden gingen während des Gottesdienstes wahrscheinlich andere Dinge durch den Kopf. Das ist ein Vorrecht, das in ihrem Unterricht gewiss verschwiegen wird.

Auch meine Gedanken schweiften ab. Beispielsweise entdeckte ich, dass ein Lied von Ralph Vaughan Williams komponiert wurde, dem das britische Kino einige seiner schönsten Filmpartituren verdankt. Immer wieder fiel mein Blick auf das Gesangbuch eines Mädchens in der Reihe vor uns. Die drei Bänder, die als Lesezeichen dienten, flocht sie zusammen zu einer Trikolore. Später knüpfte sie die Bänder wieder auf, um sie dann erneut zusammenzufügen. Sie tat es bestimmt unbewusst, zweifellos aus Langeweile. Aber mir wurde klar, wie unentrinnbar im Augenblick der Gedanke an Frankreich und an die furchtbaren Geschehnisse in Paris ist. Natürlich kam auch die Pastorin in ihrer Predigt darauf zu sprechen. Abertausende ihrer Kollegen werden es ebenso gehalten haben.

Ich habe lange gezögert, mich zu diesen Ereignissen zu Wort zu melden. Die Befangenheit ist groß. Paris spielt eine ganz besondere Rolle in meinem Leben. Ich war in jener furchtbaren Woche dort, aus einem erfreulichen Anlass, über den ich andernfalls vielleicht berichtet hätte – meinem Freund Binh wurde am Vorabend der blindwütig und planvoll begangenen Gräueltaten der Orden des Chevalier des arts et lettres verliehen. Dennoch wusste ich nicht, wie ich meinen Gefühlen in diesem Rahmen Ausdruck verleihen sollte. Ich habe in den vergangenen Tagen mehr Nachrichtensendungen gesehen und Zeitungsartikel gelesen, als es seit dem 11. September 2001 notwendig schien. Dabei habe ich unter anderem eine neue Vokabel gelernt (Gefährder), aber noch nicht in meinen Wortschatz übernommen. Ich suchte nach Anhaltspunkten;  befugt fühlte ich mich nicht. Welchen Trost, welche Erkenntnis könnte ein Verweis auf das Kino in diesem Moment spenden?

Fürwahr, es hätte Ansätze gegeben. Etwa die erneute Absetzung des Films »Made in France« von dem algerisch-stämmigen Regisseur Nicolas Bouhkrief, der bereits im Januar in Frankreich hätte anlaufen sollen, dessen Start aber wegen der Attentate auf die Redaktion von Charlie Hebdo und einen koscheren Supermarkt verschoben wurde. Nun wäre er erst recht zur Unzeit herausgekommen, da sein Plakatmotiv das Bedürfnis nach starken, sichtbaren Symbolen durchkreuzt hätte: Es zeigt eine Kalaschnikow, welche die Silhouette des Eiffelturms verdeckt. Seine Handlung – ein muslimischer Journalist infiltriert eine Dschihadisten-Zelle, die Anschläge auf die Champs Elysées und zeitgleich andere Orte in Paris plant –, wäre der Realität nun einfach zu nahe gekommen. Das gilt ebenso für den Werbeslogan des Films, »Die Bedrohung kommt von innen«. Es waren übrigens nicht die Kinobesitzer, die den Film nun nicht zeigen wollten, sondern die Produzenten und der Verleih, die von dem Start Abstand nahmen. Es stehen weitere Filme an, die ähnliche Themen verhandeln, beispielsweise »Les Cowboys« von Thomas Bidegain, dem Co-Autor der letzten Filme von Jacques Audiard, in dem es um eine Terrorzelle in Belgien geht. Er startet in dieser Woche, aber das Schicksal der neuen Filme von Bertrand Bonello (in dem sich Terroristen in einem Kaufhaus verschanzen) und anderen ist ungewiss. Ihre Hellsicht ist heikel im Augenblick. Im Gegenzug wurde ein Theaterstück namens »Iris« auf die Bühne gebracht, das auf einer Vorlage von Jean-Patrick Manchette beruht, der sich schon in den 70er und 80er Jahren mit dem Terror beschäftigte, und in dem die Kalaschnikow vermehrt zum Einsatz kommt. Das Kino hat wohl doch eine engere, heiklere Verbindung zur Lebensrealität des Publikums. Andererseits feierte »Spectre« in jener Woche den besten Start des Jahres in Frankreich.

Auch musste ich in den letzten Tagen oft an die sublime Szene aus »Timbuktu« denken, in der die Kinder unter dem Joch von Islamisten nur mit einem imaginären Fußball spielen dürfen. Wie viel das Kino vorausahnen kann! Und wie stark seine Macht der Selbstvergewisserung ist: Das Pathos der Szene aus »Casablanca«, in der die »Marseillaise« über die »Wacht am Rhein« triumphiert, hat derzeit bei Twitter eine ungeheure virale Ausstrahlung. Das ist ein mächtiges Gegengift zum blutrünstigen Marketing, das der so genannte »Islamische Staat« im Netz betreibt.

Und Ernest Hemingways »Paris – Ein Fest fürs Leben« ist momentan offenbar das meistverkaufte Buch in französischen Buchhandlungen. Darin manifestiert sich ein Lebensgefühl, das unversehens bedroht wurde. Der Titel von Bonellos Film kündet auch davon: "Paris est une fête". Es war schließlich die für Paris sprichwörtliche Unbeschwertheit, die ins Visier der Terroristen geriet. Nicht von ungefähr fanden die Attentate an einem Freitagabend statt, der vielen Opfern als Auftakt eines Wochenendes voller Zerstreuung und Lebensfreude dienen sollte und für andere den Beginn des Sabbat markierte.

All diese Assoziationen halfen mir indes nicht weiter. Bedeutsam sind sie dennoch. Das Trotzdem hat einen besonderen moralische Impetus gewonnen. Aber es war ein Wort aus der Predigt vom letzten Sonntag, das mir half, endlich meine Schreibhemmung zu überwinden: Zuspruch. Mir wurde klar, dass ich selbst ihn dringend brauche. Ich musste von mir nicht erwarten, ihn geben zu können. Zeiten wie diese scheinen eine Asymmetrie zu verlangen: Wo so viele Rat suchen, muss es einfach Helfende geben. In den Medien gab es viele Angebote, die bestürzenden Rätsel zu entschlüsseln und dingfest zu machen, die uns die Ereignisse der letzten Tage aufgeben: von Leitartikler, den üblichen Verdächtigen in Talkshows. Ihre Kompetenz ist gefragt. Dient sie als Bedienungsanleitung für das Danach? Am Stärksten beeindruckt hat mich eine Therapeutin, die auf Traumata spezialisiert ist. Im Frühstücksfernsehen stand sie Rede und Antwort. Auf die Frage einer Zuschauerin, ob sie ihre Tochter auf eine Klassenfahrt nach Paris gehen lassen könne, erwiderte sie mit einem entschiedenen Ja. Die Angst, sagte sie, darf nicht unser Ratgeber sein. Ich musste augenblicklich an ein Wort von Ingmar Bergman denken, das besagt, Gedanken und Gefühle seien frei, nur die Angst würde Grenzen ziehen. Es gebe viele Mittel, der Angst Herr zu werden. Die Zuschauer, die aus dem Stade de France flohen, hätten die Marseillaise angestimmt.

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