Buch-Tipp: Jörn Glasenapp – »Wenn die Gondeln Trauer tragen«

Venedig, Ödipus und die Farbe Rot

Gleich drei Szenen dürften sich jedem eingeprägt haben, der Nicolas Roegs Film »Dont Look Now« (1973, mit dem schönen deutschen Titel »Wenn die Gondeln Trauer tragen«) einmal gesehen hat: der Anfang, die Sexszene und die Sterbeszene kurz vor dem Ende. Von seiner Popularität zeugt die Tatsache, dass er vom Magazin »Time Out« 2011 zum besten britischen Film aller Zeiten gekürt wurde und vom »Guardian« 2001 zum drittbesten Horrorfilm aller Zeiten. In Großbritannien sind mittlerweile mehrere Einzelstudien über ihn erschienen, in Deutschland liegt jetzt die erste vor.

Sie wird dem Anspruch der Reihe »Film|Lektüren« gerecht, einen »theoriegeleiteten, aber keineswegs -dominierten Zugriff« zu leisten. Die 277 Fußnoten machen die umfassende Zur-Kenntnisnahme von und Auseinandersetzung mit vorhandener Literatur deutlich, stören aber nicht den Fluss des gut lesbaren Textes.

Der Verfasser Jörn Glasenapp (auch Herausgeber der Reihe) arbeitet dabei »kontextsensitiv«. Das betrifft vor allem die literarische Vorlage von Daphne du Maurier, zum anderen den Schauplatz Venedig, wobei der Film nicht nur von den vorherrschenden touristischen Venedig-Filmen abgegrenzt wird, sondern auch die Kulturgeschichte der Stadt einfließt. Es geht um die Genreeinordnung des Films zwischen Fantastischem und Unheimlichem, um die Farbe Rot und um Trauerarbeit, um Täuschung und Blindheit und um andere Filme des Regisseurs, vor allem aus seiner großen Phase in den siebziger Jahren, und immer wieder um seine kühne Montagetechnik. Es geht aber auch, bevor der Film mit dem abschließenden Kapitel »Ödipus Triumph« eine interessante These aufgreift (auf Freud wird verständlicherweise häufiger Bezug genommen), um die Berücksichtigung der »Disability Studies«, ausgehend von der Identität des Mörders – etwas, das in der Literatur zum Film oft unberücksichtigt blieb. Die 35 Abbildungen aus der Filmkopie bieten eine willkommene visuelle Ergänzung der Argumentation – ein Buch, das ebenso Lust macht, den Film mit den neugewonnenen Erkenntnissen wiederzusehen wie sich in die weiteren Bände der Reihe zu vertiefen.



Jörn Glasenapp: Wenn die Gondeln Trauer tragen. Edition text und kritik (Reihe: Film|Lektüren, Bd. 4). München 2022. 100 S., 20 €.

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