Mediathek: »Flee«

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Fort von Kabul

Animationsfilme für ein dezidiert erwachsenes Publikum sind selten genug, aber solche, die dann auch noch dokumentarisch erzählen, fallen einem außer »Waltz With Bashir« nur nach längerem Nachdenken ein. Für den dänischen Regisseur Jonas Poher Rasmussen, der vom Radio kommt, aber auch schon Dokumentarfilme inszeniert hat, kam bei »Flee« nur diese ungewöhnliche Kombination infrage. Denn ihm ging es darum, eine wahre Geschichte zu erzählen, deren Protagonist jedoch unbedingt unerkannt bleiben wollte.

Poher Rasmussen nämlich nimmt sich der Biografie seines früheren Klassenkameraden Amin Nawabi (der Name ist ein Pseudonym) an, der als Jugendlicher in den neunziger Jahren aus Afghanistan nach Dänemark kam. Für »Flee« erzählt der seinem alten Freund in langen Gesprächen, die der Regisseur gefilmt und später in Animationen übersetzt hat, erstmals die ganze Wahrheit über seine Flucht aus der alten Heimat und sein langwieriges Ankommen in der neuen. Eine erschütternde Geschichte, von der nicht nur Poher Rasmussen das meiste bislang nicht wusste, sondern die nicht einmal Nawabis Lebensgefährte Kaspar kannte.

Kurz vor der Machtergreifung der ­Mudschahedin, als der Vater längst abgeholt worden und spurlos verschwunden war, verlassen Nawabi, seine Mutter und drei ältere Geschwister Afghanistan Richtung Moskau. Die beiden Schwestern holt der schon länger in Schweden lebende älteste Bruder mit Hilfe von skrupellosen Schleusern dann zu sich, doch die Mutter und die beiden Söhne erreichen beim ersten Versuch – für viel Geld und unter großer Gefahr – bloß Estland, von wo es nach sechs Monaten wieder zurück nach Russland geht. Dort bleiben ist keine Option, und irgendwann landet Nawabi schließlich in Dänemark. Mutter und Bruder schaffen es später an andere Orte; dass sie überhaupt leben, verrät der junge Mann kaum jemandem. Das Asyl in Dänemark hängt ab von der Lüge, dass er eine Waise ohne Familie ist.

Allein mit dieser Fluchtgeschichte könnte man ganze Serien füllen, doch in »Flee« geht es noch um viel mehr. Etwa darum, wie Nawabi, der schon als kleiner Junge realisierte, dass er die Filme von Jean-Claude van Damme weniger der Action wegen guckt, eine Weile braucht, bis er in Europa zu einem entspannten Umgang mit der eigenen Homosexualität findet. Oder darum, wie er sich – geprägt vom jahrelangen Trauma der Heimatlosigkeit und Entwurzelung – als Erwachsener in die berufliche Rastlosigkeit stürzt und Angst davor hat, sich mit Kaspar tatsächlich niederzulassen.

Die schlichte, aber effektive und an handgemachte Zeichnungen erinnernde Animation, die Poher Rasmussen vor allem für die Kindheits- und Jugenderinnerungen auch mit Real-Archivaufnahmen kombiniert, funktioniert ganz großartig in zweierlei Richtung. Denn sie hält einerseits den Horror, der Nawabis Erfahrungen innewohnt, auf eine erträgliche Distanz, gleichzeitig aber eben auch den Kitsch, mit dem Migrationsgeschichten im Film gern mal erzählt werden. 

Davon, dass »Flee«, dem bei den diesjährigen Oscars das Kunststück gelang, als Animations-, Dokumentar- und Internationaler Film nominiert zu sein (wenn auch letztlich leider erfolglos), nicht emotional packend sei, kann dennoch keine Rede sein. Im Gegenteil: Gerade dass zwischen dem Regisseur und seinem Protagonisten durch ihre langjährige Freundschaft eine spürbare Nähe besteht, sorgt für eine Intimität und respektvolle Annäherung, die enorm berühren. Und der Kniff, dass sich Nawabi dank der Verfremdung wohl und sicher genug fühlt, seine eigene Geschichte zu erzählen (in der dänischen Originalversion ist er auch der Sprecher), ermöglicht einen Zugang zu dieser Biografie, der so persönlich, menschlich und authentisch anders nicht möglich gewesen wäre. Geradezu unmittelbar dabei sein zu dürfen, wie er sich nach Jahren der Verkapselung öffnet und sich den mitunter kaum vorstellbaren eigenen Erinnerungen zu stellen beginnt, ist ein bemerkenswertes, außergewöhnliches Filmerlebnis, das auch bei uns unbedingt einen Kinostart verdient gehabt hätte.

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