»Los sonámbulos«

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Familienaufstellung

Alles sehr lässig hier: das stattliche Landhaus mit dem von einer Backsteinmauer gerahmten großen Pool im weiten Gartengrün. Der SUV für die Anfahrt aus der Hauptstadt. Altes Mobiliar aus massivem Holz. Und ausgiebige gesellige Trink- und Tafelgenüsse. Weniger gediegen ist der soziale Umgang der argentinischen Großfamilie, die sich seit langem in der Zeit zwischen den Jahren im Haus der Großmutter trifft. Drei Generationen insgesamt, eine Klein- und zwei Teilfamilien, kommen da zusammen, ein familiäres Patchwork, das neben der gemeinsamen Geschichte auch durch eine geschäftliche Unternehmung verbunden ist: ein Verlag, an dessen Aktivitäten neben der verwitweten Großmutter auch ihre beiden erwachsenen Söhne, Tochter und Schwiegertochter in unterschiedlichen Formen beteiligt sind.

Hinter dem großbürgerlichen Auftritt laufen die Geschäfte aber wohl so schlecht, dass die Aufgabe des Unternehmens im Raum steht. Und das rote »Zu verkaufen«-Schild an der Einfahrt zu Memés Grundstück deutet an, dass auch hier einiges nicht stimmt: Großmutter will den Familienstammsitz veräußern. Dass sich die vier der nächsten Generation zu den anstehenden Veränderungen (drohender Verlust für die einen, erhoffte Emanzipation für andere) ganz unterschiedlich positionieren, ist – neben den filmüblichen familiären und amourösen Verstrickungen und Verletzungen – ein Anlass für latente und manifeste Spannungen. 

Richtig Bewegung aber kommt in das einigermaßen eingespielte Gefüge mit der für alle Beteiligten überraschenden Rückkehr eines verlorenen Sohnes: Der junge Mann war lange Jahre aus dem Familienumfeld verschwunden und ist nun ohne weitere Erklärung zurückgekehrt. Inszeniert ist er von Hernández als eitler und arroganter Schnösel, der mit seiner jungenhaften Direktheit aber auch anziehend auf einige der Beteiligten wirkt.

Besonderes Interesse an Alejo zeigt die fünfzehnjährige Ana, die dem älteren Cousin schon als kleines Mädchen nahestand und nun wie er an der Schwelle zwischen den Arschbomben der Kinderwelt und den beim Rotwein verhandelten Konflikten der Erwachsenen steht. Sie ist die einzige Tochter von Memés Sohn Emilio und einer Mutter, die mit der Schwiegerfamilie zunehmend fremdelt und die eher zufällig entdeckte erste Menstruation ihrer Tochter zum Anlass für als Gesprächsangebot getarnte Übergriffigkeiten nimmt.

Ana ist das emotionale Zentrum dieses erweiterten Kammerspiels, in dem Autorin und Regisseurin Paula Hernández gekonnt Elemente einer Coming-of-Age-Geschichte mit dem Szenarium einer klassischen Familienaufstellung verschmilzt. Gespielt wird das von der rundum großartigen Darstellerriege ebenso fein ziseliert wie energetisch, während die fluide an den Menschen orientierte Kamera von Iván Gierasinchuk und eine impressionistische Montage Räume konsequent in tiefengestaffelte Choreographien und Lichtstimmungen auflösen: flirrende sommerliche Hitze, ekstatische Momente am nächtlichen Lagerfeuer und blassblaues Morgengrau. 

Offensichtlich schließt Hernández in ihrem vierten Film auch an Lucrecia Martels »La Ciénaga« (2001) an, der vom hitzegedrückten und erschlafften Pool-Leben einer in Auflösung begriffenen großbürgerlichen argentinischen Familie in ihrem Landhaus erzählte. Doch im Unterschied zu Martels elliptischer Erzählweise ist Hernández Narration linear, wenn auch von vielen Auslassungen durchlöchert. Schade, dass ihre subtile Studie unnötigerweise (aber vorhersehbar) am Ende noch in eine Aufwallung gerät, die erst in einer Familienschlägerei und dann im trauten Mutter-Tochter-Duo im Familien-SUV mündet. Beide lächeln erst mal. Aber für Ana dürfte diese Nähe das Gegenteil von einer Befreiung bedeuten.

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