Streaming-Tipp: »The Other Side of the Wind«

OmU © Netflix

Gespiegelte Legende: Orson Welles letzter, postum fertig gestellter Film ist nun, vier Jahrzehnte nach Ende der Dreharbeiten, auf Netflix zu sehen

Was auf Hollywoodparties geredet wird, das lehrt uns zumindest das Kino, hält selten der Prüfung durch den Alltag stand. Bei derlei Feierlichkeiten bleibt man unter sich und dem eigenen Jargon, der eigenen Weltsicht verhaftet. Niemand käme auf die Idee, die eigenen Worte wären danach belastbar.

Die Feier, die zu Ehren Jake Hannafords (John Huston) ausgerichtet wird, ist jedoch keine Hollywoodparty wie andere. Der alternde Regisseur begeht seinen Geburtstag, aber niemand bringt Geschenke mit. Am Nachmittag fiel die letzte Klappe seines jüngsten Films, der seine Rückkehr aus dem europäischen Exil markiert, wozu ihm aber keiner der Gäste gratuliert. Hannaford ist umgeben von Epigonen, Weggefährten und Kritikern, er präsidiert über einen Karneval der Kränkungen und Missgunst, bei dem keiner der Anwesenden den Eindruck erweckt, er würde ihn mögen. 

Die Party ist das eine Herzstück von Orson Welles letztem, postum fertiggestelltem Film; das zweite ist der Film im Film, den der Regisseur als Satire auf das europäische Kunstkino der 60er angelegt hat. Beides summiert sich zur Abrechnung mit einem Hollywood, in dem längst die nächste Generation den Ton angibt und einer wie Welles keinen Platz mehr hat. Aber er inszeniert diesen vergifteten Mikrokosmos mit einem Elan, der porös ist und empfänglich für das, was in der Luft lag. »In unserem Land findet eine Revolution statt«, heißt es einmal im Getümmel der Feier, »wie wird das Kino sie reflektieren?« Das Datum dieses Umsturzes lässt sich allerdings nicht mehr genau bestimmen, denn die Dreharbeiten zu »The Other Side of the Wind« zogen sich von 1970 bis 1976 hin, als Vietnam und Watergate bereits der Geschichte angehörten und das New Hollywood fast schon von der Blockbuster-Ära abgelöst wurde. 

Die Antwort, die der Film gibt, ist vor allem eine ästhetische: Er sieht auf Anhieb gar nicht nach Welles aus, ist rissig und gehetzt montiert, an die Stelle ausgeklügelter Kompositionen tritt eine fahrige Handkamera; nur für die Film-im-Film-Sequenzen standen dem notorisch klammen Regisseur noch ein Kamerakran und Dolly zur Verfügung. Welles erfindet sich aus Not und Verzweiflung neu, er inszeniert explizite Nackt- und Sexszenen, die seinem zwar barocken, aber doch stets puritanischen Stil zuwiderlaufen. »The Other Side of the Wind« ist das faszinierende Zeugnis einer existenziellen Verunsicherung. 

Die optimistischste Frage, die sich mit der postumen Fertigstellung dieses Testaments verknüpft, könnte lauten: Wirkt es heute womöglich gar moderner, als dies 1976 der Fall gewesen wäre? Er landet in der Gegenwart wie eine Zeitkapsel. Weniger die Epoche, als vielmehr die chaotischen Umstände seiner Entstehung haben sich in ihn eingeschrieben. Über sie ist viel in der Dokumentation »They'll love me when I'm dead« von Morgan Neville zu erfahren. In einer rauschhaften Montage von Interviews, historischen Dokumenten und Filmausschnitten stellt Neville den Film, durchaus widerspruchsvoll, in den Kontext von Welles' Werk und Leben. 

Passagenweise gibt sich auch »The Other Side of the Wind« als ein mock documentary zu erkennen, dessen Bilder nachdrücklich unaufgeräumt anmuten. Im Gegenzug hat Welles den Film-im-Film mit einer erratischen Eleganz inszeniert, die zuweilen die Intention einer Antonioni-Karikatur unterläuft; einmal variiert er brillant die Spiegelkabinett-Szene aus »Die Lady von Shanghai«. Zur Rissigkeit des Films trägt bei, dass leidliche Selbstdarsteller (unter denen Peter Bogdanovich hervorsticht) sich neben versierten Schauspielern (Lilli Palmer, Susan Strasberg, Paul Stewart) behaupten müssen. Welles' Entscheidung, die Hauptrolle John Huston anzuvertrauen, ist einerseits klug über die Bande gespielt: eine raffinierte Maskierung des Autobiographischen. Aber sein Hannaford bleibt eine Präsenz, die sich entzieht, stets in Anführungsstrichen spricht: weniger eine Figur, als der Steinbruch eines Mythos. Welles fehlt, vor der Kamera und im Schneideraum. Cutter Bob Murawski hat zwar die titanische Aufgabe bewältigt, aus dem heterogenen Drehmaterial einen ziemlich kohärenten Film herauszufiltern. Aber seine Schnittfassung ist nurmehr eine Spekulation über Welles' Intentionen. »The Other Side of the Wind« bleibt, was er Jahrzehntelang war: ein Phantomfilm.

 

 

Netflix-Stream: »The Other Side of the Wind«

Netflix-Stream: »They'll love me when I'm dead«

Meinung zum Thema

Ihre Meinung ist gefragt, Schreiben Sie uns

Mit dieser Frage versuchen wir sicherzustellen, dass kein Computer dieses Formular abschickt