Stanley Kubrick – Meister der Distanz

»2001 – Odyssee im Weltall« (2001)

»2001 – Odyssee im Weltall« (2001)

Am 7. März vor zwanzig Jahren ist Stanley Kubrick gestorben. Er hat ein Werk hinterlassen, das heute noch fasziniert. Nicht nur wegen seiner technischen Perfektion, sondern auch wegen seiner unverwechselbaren Haltung. Rudolf Worschech über Kubrick als Gesellschaftssatiriker

Wer sich in den 70er Jahren für das Kino interessierte, kam um eines nicht herum: die Matinee mit Stanley Kubricks »2001 – Odyssee im Weltall«. Zwar startete Kubricks Film über den Kontakt der Menschheit mit Außerirdischen schon 1968, aber er blieb für Jahre präsent. Entstanden nach einer Kurzgeschichte von Arthur C. Clarke, die der Autor später in einen vielgelesenen Roman umwandelte, passte »2001« mit der legendären zwanzigminütigen Fahrt durch Farben und Licht perfekt in das ausgehende psychedelische Zeitalter, in dem Esoteriker wie Carlos Castaneda und Erich von Däniken auf den Bestsellerlisten standen. Was das alles zu bedeuten hatte, ob Gott dahintersteht oder doch nur die Aliens – das war einem damals ziemlich egal.

Drei Jahrzehnte später ist es beruhigend, dass es darüber immer noch keinen gesicherten Stand der Forschung gibt. Wahrscheinlich macht genau das die Vieldeutigkeit, die Faszination dieses Films aus. Wer den Klassiker in späteren Jahrzehnten noch einmal im Kino gesehen hat, sieht ihn mit anderen Augen. Verglichen etwa mit den digital animierten Helden in den neuen »Planet der Affen«-Filmen fallen Kubricks Primaten ziemlich ab – auch wenn wir wissen, dass die Darsteller Wochen geübt haben, das Bewegen wie ein Mensch zu verlernen, und jedes Buch über Special Effects das Loblied auf die grandiose Rückprojektionstechnik dieser Sequenz singt.

Aber man schmunzelt auch über so manches hellsichtige Detail. »2001« steckt voller Product Placement (das es zum Zeitpunkt der Entstehung noch nicht gab, jedenfalls nicht so wie heute): Die Fähre, die in der zweiten Episode des Films den Wissenschaftler Dr. Heywood Floyd zu einer die Erde umkreisenden Station bringt, gehört der »Pan Am«; in der Station, auf der die »Hilton«-Kette ein Hotel betreibt, finden sich die Logos von »At & T« und »Bell«.

»2001: Odyssee im Weltraum« (1968). © Warner Bros. Pictures

Und dann natürlich HAL 9000, der Computer, der Bowman auf seinem Weg zum Jupiter das Leben so schwer macht. HAL steht erstens für »Heuristrically Programmed Algorithmic Computer« und ist zweitens eine Ableitung von »IBM«: alles einen Buchstaben früher im Alphabet. Aber ist HAL 9000 nicht auch eine, wiederum erstaunlich hellsichtige Parodie? Ein eitles, eifersüchtiges, eingeschnapptes, launisches Elektronenhirn, das beleidigt ist, weil man es bei einem Fehler erwischt hat? Das um sein Leben bettelt, als Bowman nach und nach die Bänder mit seinem Gedächtnis entfernt, bis HAL nur noch die Erinnerung an ein Kinderlied bleibt: »Hänschen klein«.

Stanley Kubrick war ein Meister des Satirischen. »Lolita« (1962), »Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb« (1964) und »A Clockwork Orange« (1972) können Satire als Genrebezeichnung beanspruchen. Aber auch andere Kubrick-Filme sind voll von Momenten der Ironie und des Grotesken. Schon in einer seiner frühen Produktionen (von denen er sich später distanzierte), der Film-Noir-Variation »Killer's Kiss« (1955), gibt es zwei kleine Meisterstücke des Absurden. »Killer's Kiss« erzählt von der sich anbahnenden Liebe zwischen dem Boxer Davey (Jamie Smith) und der Tänzerin Gloria (Irene Kane), die als Hostess bei dem Nachtclubbesitzer Rapallo, genannt »Killer«, arbeitet. Beide wohnen im selben Block. Als Davey des Nachts mitbekommt, wie Rapallo Gloria zu vergewaltigen versucht, greift er ein. Am anderen Tag wartet Davey vor Rapallos Club auf seinen Manager Albert, der ihm einen Scheck bringen will, während Gloria oben bei Rapallo kündigt. Als zwei Betrunkene ihm seinen Schal stehlen und er ihnen nacheilt, halten Rapallos Schergen den inzwischen angekommenen Albert für Davey und ermorden ihn in einem Hinterhof. »Notice: No ­Toilet« steht auf einem Plakat an der Wand. Noch grotesker ist das Finale des Films: Nach einer größtenteils in Totalen gefilmten Flucht über die Dächer stellt Rapallo den Boxer in einem Lagerhaus voller Schaufensterpuppen. Rapallo kämpft mit einer Feueraxt, Davey mit einem Stock – und sie richten ein »Massaker« unter den Puppen an.

Der distanzierte Blick

Es gibt in den Filmen von Stanley Kubrick wenig Möglichkeiten zur Identifikation mit den Hauptfiguren, Ausnahmen mögen »Paths of Glory« und »Spartacus« sein. Besonders »Lolita«, Kubricks Verfilmung des 1955 erschienenen Romans von Vladimir Nabokov, demontiert von Anfang an seine Hauptfigur, den Schriftsteller und Universitätsprofessor Humbert Humbert. Die Exposition, in der er seinem Widersacher Clare Quilty in dessen schlossähnlichem Anwesen gegenübertritt, ist eine Tour de Force der Entlarvung und Vorwegnahme. Humbert stellt mit seiner Pistole Quilty, der, sichtlich betrunken, auf einem Sessel unter einem Bettlaken eingeschlafen war. Aber es ist Quilty, der sich über Humbert lustig macht und ihm ein absurdes Ping-Pong-Spiel aufdrängt, bis Humbert ihn zwingt, sein eigenes Todesurteil zu lesen, ein peinliches Poem.

»Lolita« ist die Tragödie eines lächerlichen Mannes. In Nabokovs Roman, der in der Ich-Form erzählt ist als in der Haft niedergeschriebener Bericht, desavouiert sich Humbert selbst durch seine eitlen Schilderungen und seinen Größenwahn. Diese Methode konnte Kubrick nur bedingt in seinen Film übernehmen; auch von Nabokovs Urdrehbuch – es soll in der Urfassung für sieben Stunden Film ausgereicht haben – ließ Kubrick wenig übrig. An die Stelle der Selbstentlarvung setzt der Regisseur die Konstruktion. Er hat »Lolita« geformt wie einen Teufelskreis. Der Film beginnt mit der Ermordung Quiltys und endet mit ihr; dazwischen liegt die Falle, die Quilty Humbert gestellt hat, oder besser gesagt: die dieser sich selbst stellte. Denn Humbert ist ein zweifach Gefangener: seiner Lüste und der Machenschaften Quiltys.

In »Lolita« schüttet Kubrick Spott über alle Figuren: Der englische Literaturwissenschaftler Humbert (James Mason) sucht für den Sommer eine Bleibe in dem Badeort Ramsdale. Die Abscheu des auf den ersten Blick distinguiert wirkenden Mannes angesichts einer potenziellen Vermieterin ist offensichtlich: Die Witwe Charlotte Haze (Shelley Winters) ist die Parodie einer Kleinstädterin, Mitglied im Literaturverein, also bildungsbeflissen, und zugleich die Imitation eines Kinovamps, wenn sie im leopardenfellgemusterten Kleid mit ihrer Zigarettenspitze jongliert. Erst als Humbert ihre Tochter Dolores, genannt Lolita, im Garten liegen sieht, entschließt er sich zum Bleiben.

Aber auch Lolita kann nicht wirklich die Sympathie der Zuschauer gehören. Es hätte nahegelegen, sie, der Humbert eine sexuelle Beziehung aufzwingt, als Opfer zu zeigen. Aber Kubrick entgeht dieser Versuchung. Sue Lyon war 16, als sie die Rolle der nominell zwölfjährigen Lolita spielte, und sie wirkt auch eher wie ein reifer Teenager. Zum anderen verzichtet der Film, obwohl er eine Obsession schildert, weitgehend auf explizit erotische Bilder. Der Roman ist sehr viel lüsterner, wie man damals gesagt hätte, und betont auch eine homoerotische Kompente in Lolitas Erscheinung. Der Film gibt den voyeuristischen Standpunkt des Romans, das Bramarbasieren über die Reize des Nymphchens, auf und belässt es bei Andeutungen, etwa, wenn Humbert Lolita beim Spiel mit dem Hula-Hoop-Reifen im Garten zuschaut. Zum anderen zeigt der Film »Lolita«, ebenso wie das Buch, als vulgär und berechnend: Sie selbst ist es, die mit Quilty ihre Befreiung aus den Armen von Humbert eingefädelt hat.  

Nach dem zufälligen Tod von Charlotte Haze unternimmt Humbert mit Lolita eine Reise durch Amerika, auf der er seine Stieftochter zu seiner Geliebten macht. Die Nacht, in der sie zum ersten Mal in einem Hotel miteinander schlafen, ist einer der bitterkomischen Höhepunkte des Romans: Humbert beschreibt, wie er Lolita Tranquilizer verabreicht und sich Millimeter um Millimeter an sie herantastet – wobei Geräusche vom Korridor und aus einer Toilette ihn immer wieder zurückwerfen. Am Ende ist es Lolita, die die Initiative ergreift. Kubrick hat Humberts Verunsicherung in Slapstick übersetzt: Er bestellt beim Portier ein zusätzliches Feldbett für das Zimmer, schafft es aber nicht, es aufzubauen.

Beibehalten hat Kubrick auch die Abrechnung mit dem Intellektuellen Humbert Humbert. Der Roman stellt dessen Arroganz nicht nur durch eingestreute französische Wendungen heraus, sondern durch die Überheblichkeit, mit der er seiner Umwelt begegnet. Sein

Abscheu etwa gegen seine Frau ist so groß, dass er »das arme, glitschige, großleibige Geschöpf« sogar umbringen will (was Kubrick nicht übernommen hat), aber an seinem Unvermögen scheitert. Auch die Winkelzüge, die Humbert anwendet, um bei Lolita zu landen, illustrieren die Umständlichkeit des Gelehrten. Im Film wirkt Humbert mitunter hilflos. Als er auf einem Ball einem mit Charlotte befreundeten Ehepaar begegnet, weiß er minutenlang nicht so recht wohin mit seinem Glas und seinem Tortenstück.

Die komödiantische Seite von »Lolita« hat zuerst Pauline Kael herausgehoben: »Das Überraschende an »Lolita« ist, wie unterhaltsam er ist: Es ist die erste neue amerikanische Komödie seit der großen Zeit in den Vierzigern, als Preston Sturges das Genre mit verbalem Slapstick auffrischte. »Lolita« ist schwarzer Slapstick und zuweilen so  überzogen, dass man beim Lachen nach Luft schnappt.« An vielen Stellen erscheint der Film heute auch als eine sarkastische Parodie auf das Melodram der 50er Jahre.

Triumph der Künstlichkeit

Lächerliche Männer: Diese Spezies gibt es in vielen Filmen von Stanley Kubrick. Bis hin zu seinem letzten, »Eyes Wide Shut« (1999). Dass ein Ehemann (Tom Cruise) so aus den Latschen kippt, weil ihm seine Frau (Nicole Kidman) ihre erotischen Fantasien beichtet, wirkte im Zeitalter der Swinger-Clubs nur bedingt nachvollziehbar; der kausale Zusammenhang ist in der zugrunde liegenden »Traumnovelle« von Schnitzler nur angedeutet. Selbst sein Historienfilm »Barry Lyndon«, die Geschichte vom Aufstieg und Fall des Redmond Barry, geht mit seiner Hauptfigur nicht gerade pfleglich um. Als der Film 1975/76 in die Kinos kam, wurde er rezipiert unter dem Gesichtspunkt der Evokation einer Epoche und seiner Detailverliebtheit, der Aufnahmen bei Kerzenschein (für die Kubrick sich für die NASA entwickelter Linsen bediente), der Kostüme, die historischen Gemälden und Vorbildern nachempfunden sind. Hier und da kritisierte die Presse, die immer den »Perfektionisten« Kubrick lobte, die Missachtung der dramatischen Elemente des Stoffs.

Aber die scheinen Kubrick auch nicht vordringlich interessiert zu haben. Obwohl der Film alles hat, was zu einem ordentlichen Abenteuerfilm gehört, üppige Schlachtengemälde, amouröse Einlagen, Duelle, faszinierende Landschaftsaufnahmen mit einer Tiefenschärfe, die man bis dato nicht im Kino erlebt hatte, bleiben uns die Zeit und ihr Held fremd. Kubrick verzichtet darauf, sie mit den Augen von heute zu zeigen. »Barry Lyndon« ist Distanz pur: ein Auf und Ab von Tableaux und Ritualen; selbst die Schlachtszenen sind so statuarisch gefilmt, wie damals die Soldaten in den Krieg geführt wurden. Auch wenn wir wissen, dass Kubrick sich um ein­ möglichst authentisches Bild der Regierungszeit Georgs III. (1760 — 1820) bemühte und sich in der Komposition der Bilder von Malern wie Gainsborough und Watteau inspirieren ließ: Immer wieder durchbricht sein Film den blanken Naturalismus. Kubrick arbeitet mit Zooms, die mit ihren Perspektivveränderungen jede stilvolle Komposition durchbrechen. Auch die Ausleuchtung der Interieurs allein mit Kerzen war damals (und ist heute immer noch) ein Angriff auf Seh­erwartungen – die Bilder sind ganz anders in den Kontrasten als ein »gewöhnlicher« Historienfilm, bei dem etwa gezielt Restlicht den Raumhintergrund ausleuchtet. Selbst die gepuderten Gesichter, sicherlich auch so verbürgt, geben ihren Trägern eine Leichenblässe, die sie regelrecht verfremdet wirken lässt. So entsteht in »Barry Lyndon« das Paradox einer Künstlichkeit, die sich aus der größtmöglichen Authentizität speist.

Das passt gut zur Konstruktion des Films, die mit ihren an den Roman angelehnten Zwischentiteln an ein satirisches Genre erinnert: den Schelmenroman. »Wie Redmond Barry Rang und Namen des Barry Lyndon gewann«, lautet der erste. Redmond Barry, Sohn einer Adligen, deren Mann durch ein Duell ums Leben kam, wird zu Beginn als großer Naiver eingeführt, dessen Gefühle ihn zu einem Duell (bei dem er getäuscht wird) und zur Flucht zwingen, der gnadenlos ausgeraubt wird und zuerst bei der britischen, dann bei der preußischen Armee landet. Wie ein Chamäleon wirkt Redmond, mit stoischem Gesichtsausdruck gespielt von Ryan O'Neal, und so erobert er auch die Gunst von Lady Lyndon. Teil zwei, »in welchem von den unheilvollen Ereignissen berichtet wird, die über Barry Lyndon hereinbrachen«, zeigt seine Anstrengungen, seinen Besitz zu sichern, indem er sich um den Titel eines Lords bemüht. Auch dieses – vergebliche – Ansinnen des Emporkömmlings und Parvenüs hat etwas Lächerliches, wenn etwa Barry Unsummen für Gemälde ausgibt. Seine absolute Niederlage ist ein Empfang beim König, wo ein Begleiter erwähnt, dass Barry Lyndon Soldaten für den Kampf gegen die Rebellen in Amerika aufgestellt habe, und der König darauf nur erwidert, er solle doch mitgehen und sich dort beweisen.

Die spezifische Ironie dieses Films entsteht aber nicht nur durch solche Sequenzen, sondern vor allem durch den allwissenden Erzähler. Es ist erstaunlich, in wie vielen Filmen Kubrick den Off-Kommentar verwendet, in den frühen, wie in »Killer's Kiss«, nutzt er ihn noch konventionell, um Personen und Zeit einzuführen oder Handlungssprünge zu glätten, später dann als Ebene der Kommentierung. In »Barry Lyndon« hat Kubrick allerdings eine gravierende Änderung gegenüber der Vorlage vorgenommen. Der Roman ist mit spitzer Feder als Ich-Erzählung geschrieben, der filmische Erzähler präsentiert sich allerdings in der dritten Person. Das gibt Kubrick die Möglichkeit, Ereignisse vorwegzunehmen. Schon zu Beginn beim Duell des Vaters, dessen Tod der Auslöser für Barrys Armut ist, erzählt er dessen Ausgang und erspart sich nicht, die glänzende Zukunft zu erwähnen, die Barry nun genommen ist. Der Erzähler kommentiert ironisch die Zeitläufte und die handelnden Personen. Als Barry etwa gerade versucht, den Titel eines Lord zu erwerben, heißt es: »Barry gehört zu jenen, deren Begabungen zwar ausreichten, ein Vermögen zu gewinnen, dann aber nicht genügte, dieses festzuhalten. Denn gerade die Fähigkeiten und Eigenschaften, mit denen ein Mann sich das Glück gefügig zu machen glaubt, gereichen ihm später nur allzu oft zum Verderben.« Womit der Erzähler sich nicht nur über Barry lustig macht, sondern auch die Schönheit und den Reichtum der Bilder konterkariert.

Lachen über das Böse

»A Clockwork Orange« macht hingegen die Hauptfigur Alex De Large (Malcolm McDowell) zum Ich-Erzähler. Die erste Dreiviertelstunde des nach dem gleichnamigen Roman von Anthony Burgess entstandenen Films, der 1983 im London einer sehr nahen Zukunft spielt, zeigt die Gewalttaten der Droogs, also von Alex und seinen drei Freunden. Zuerst hocken sie in einer Milchbar, dann verprügeln sie einen alten Säufer, legen sich mit einer anderen Bande an, die gerade ein Mädchen vergewaltigen will, dringen in den Bungalow des Schriftstellers Alexander ein, vergewaltigen dessen Frau und überfallen den »Reformclub« der Cat Lady, die Alex mit einer Skulptur, einem Riesenphallus, ermordet.

Man hat Kubrick oft vorgeworfen, er schildere die Gewalttaten von Alex und seinen Droogs, ohne dagegen Partei zu ergreifen. Es ist der Kommentar, der in »A Clockwork Orange« entlarvend wirkt: ein grausiger innerer Monolog. Wie vor Publikum (er hat ja uns, die Zuschauer) geriert sich Alex, und er spricht seine Zuhörer mitunter direkt an: »Das hier bin ich, Alex«. Alex liebt Beethoven (»Ludwig Van«), und beim Hören der 9. Symphonie sagt er sich: »Oh! Unbeschreiblichkeit des Himmels. Es war die Herrlichkeit, und die Herrlichkeit wurde Fleisch. Wie ein Vogel aus dem kostbaren Metall des Weltalls gesponnen. Wie Silberwein, der durch ein Raumschiff schwebt: Hier wird Schwerkraft zum Unsinn, und während ich lauschte, sah ich so liebliche Bilder.« Dazu zeigt Kubrick eine Frau am Galgen, Gesteinsbrocken, die Menschen erschlagen, und Alex als Dracula, dem das Blut über die Lippen läuft. Dieses Prinzip der zynischen Entlarvung findet sich übrigens auch im Trailer, der zu Inserts wie »Witty«, »Musical« oder »Bizarre« Ausschnitte aus dem Film zeigt – nach »Funny« erscheint einer aus der Vergewaltigungsszene.

Die zweite kommentierende Ebene ist die Musik. Wenn beim Überfall auf den Schriftsteller und seine Frau Alex zu den Klängen von »Singin' in the Rain« durchs Zimmer tänzelt, Mrs. Alexander das Kleid aufschneidet und Mr. Alexander »Viel Vergnügen, alter Herr« wünscht, so ist das mehr als nur ein grausiges Ballett: Es ist die schwärzeste Parodie, die man sich vorstellen kann, eine Persiflage auf die Lebenslust, die der Musicalsong verströmt.

»A Clockwork Orange« ist voll von Karikaturen. Alex selbst aber gehört nicht zur Spezies der lächerlichen Männer, die so viele von Kubricks Filmen bevölkern. Ihm ist eine gewisse Größe zu eigen – ist er nicht ein Künstler, wie Georg Seeßlen gefragt hat? »A Clockwork Orange« ist ein Spiel mit der Haltung des Zuschauers zu dieser Hauptfigur. Im ersten Drittel des Films, in dem Alex mit den Droogs sein Unwesen treibt, schwankt man zwischen Bewunderung und Abscheu, aber das Gefängnis und die anschließende »Ludovico«-Behandlung, die Alex durch die erzwungene Betrachtung gewalttätiger Bilder zu therapieren sucht, führen fast zu Mitleid mit diesem Täter, der nun selbst Opfer geworden ist – des politischen Kalküls und eines wissenschaftlichen Sadismus.

Heute faszinieren an »A Clockwork Orange« vor allem die Zeitbezüge. Die Kunstsprache »Nadsat«, die Alex und die Droogs sprechen, ist mit russischen Lehnwörtern (Dewotschka für Mädchen, Maltschik für Junge) durchsetzt – ein Reflex auf den Feind im Kalten Krieg, das ultimativ Böse? Und ist »A Clockwork Orange« nicht eine Satire über den Hedonismus der 70er Jahre? You CAN always get what you want, gewissermaßen. Um einmal die Rolling Stones ins Spiel zu bringen. Die Milchbar, in der Alex und die Jungs bei »Moloko plus« sitzen und auf das »Ultrabrutale« warten, ist eine Referenz an die psychedelischen Clubs dieser Ära. Der braunrote Mantel, mit dem Alex in einen Musikladen mit rot und grün blinkender »Top Ten«-Skala geht, sieht so carnabystreetmäßig aus wie die Klamotten der Stones auf ihren Plattencovern. Auch das Wohnsilo, in dem Alex mit seinen Eltern lebt, wirkt sehr real.

Das liegt nicht etwa nur am Budget, das bei »A Clockwork Orange« gering war und fast ausschließlich zum Drehen an Originalschauplätzen zwang. Ausgerechnet die beiden Filme von Kubrick, die in der nahen Zukunft spielen, setzen die Gegenwart und besonders ihr Design als Überzeichnung fort: In »2001« sind die Sitzgelegenheiten auf der Weltraumstation und die Hüte der Stewardessen im Sixtieslook gehalten. Das Haus des Schriftstellers in »A Clockwork Orange« mit seinen surreal anmutenden Möbeln, die an Allen Jones erinnernden Frauenskulpturen in der Milchbar und die überdimensionale, stilisierte Penisskulptur sind unverhohlene Parodien auf die Pop Art. Auch Alex' Kostümierung mit dem Bowler-Hut des Gentleman und dem Overall des Working Class Hero funktioniert auf diese Weise.

Strange, stranger, Strangelove

Die größte Parodie eines Raumes ist Kubrick und seinem Filmarchitekten Ken Adam allerdings mit dem War Room in »Dr. Strangelove or: How I Stopped Worrying and Love the Bomb« gelungen, einer Mischung aus Bunker, Albert Speer'schem Größenwahn und US-amerikanischen Großmachtsphantasien. Präsident Ronald Reagan wollte, so heißt es, bei seinem Amtsantritt als Präsident in den War Room geführt werden, den er aus Kubricks Film kannte. Damit hat er sicherlich Geschmack bewiesen. Verstanden hat er den Film nicht.

»Dr. Strangelove« ist eine der wegweisenden Satiren der Nachkriegszeit, vergleichbar vielleicht nur mit Chaplins »Großem Diktator« von 1940. Ein Anschlag auf die Autorität der westlichen Welt, die amerikanische Regierung. Schon der Ausgangspunkt von »Dr. Strangelove« war ja als Prämisse des gesamten Kalten Krieges bittere Realität: Sicherheit durch Abschreckung. Das Kreisen von Bombenflugzeugen in der Luft, ein sich verselbstständigender Militärapparat und Strategen, die Millionen von Menschenopfern in ihre Planungen einbeziehen, ließen die Story dieses Films möglich werden. Der erzählt, wie es einem durchgedrehten General gelingt, eine Bomberarmada Richtung Sowjetunion zu schicken, und wie der amerikanische Präsident mit seinem Generalstab alles tut, um die nukleare Apokalypse aufzuhalten. Vergeblich.

»Dr. Strangelove« ist der Film von Stanley Kubrick, der am offensichtlichsten geläufige Mittel der Satire und der Parodie einsetzt. Es gibt witzige und sprechende Namen wie den General Jack D. Ripper, den russischen Botschafter de Sadesky oder den Piloten des Bomberflugzeugs, das am Ende als einziges auf sein Ziel zurast: Major King Kong. Ungeniert nutzt Kubrick auch die Stereotypen der Militärklamotte mit ihrer Lust am Übertreten und Missachten der militärischen Regeln.

Witzig ist anders

Das eigentlich Subversive an »Dr. Strangelove« aber ist, wie er herkömmlichen Autoritäten Infantilität, Unzurechnungsfähigkeit und Verantwortungslosigkeit unterstellt. General Jack D. Ripper, der den entscheidenden Befehl zum Losschlagen gibt, ist Opfer einer sexualfeindlichen Paranoia, deren Kern ungefähr besagt, dass die kommunistische Bedrohung auch die lebenswichtigen Körpersäfte betreffe. Auch der Code, den einer von Rippers Offizieren entdeckt und der die Bomber stoppen kann, entstammt seinem Wahn: »Peace on Earth/Purity of Essence«. Der Höhepunkt der wahnhaften Szenen im War Room ist das Telefonat des amerikanischen Präsidenten mit seinem offensichtlich angetrunkenen russischen Kollegen. Es beginnt so: »Hello. Ah ... hello. Hello, Dimitri. Listen, eh, I can't hear ya too well. Suppose you can turn down the music just a little? That's much better. Yes. Fine. I can hear you now, Dimitri. Clear and plain and coming through fine. I'm coming through fine too, eh? Good. Then. Well, then, as you say, then, we are both coming through fine. Good. Well, it's good that you're fine and I'm fine. I agree with you, it's great to be fine.« Später werden die beiden sich wie Kinder darüber streiten, wer den anderen mehr bedauert.

»Dr. Strangelove« enthält auch einen der berühmtesten Ritte der Filmgeschichte. Schon während der Bomber auf sein Ziel zusteuert, hat Kubrick den Marsch »When Johnny Comes Marching Home« unterlegt: Mit der Figur des Captain Kong wird parodistisch der Mythos des einsamen Westerners zu Grabe getragen. Kong, der sich einen Cowboyhut aufgesetzt hat, fliegt manuell über die Berge, um dem russischen Radar und den russischen Raketen zu entkommen. Als Selfmademan klettert er in den Bombenschacht, um das verklemmte Abwurfsystem zu reparieren. Er sitzt auf der Bombe, als sie sich ausklinkt, wie bei einem Rodeo und schreit »Yahoo Whahoo«.

»Dr. Seltsam oder: Wie ich lernte, die Bombe zu lieben« (1964). © Neue Visionen Filmverleih

Grotesk ist auch die Figur des titelgebenden Dr. Strangelove, der Inbegriff eines faschistischen Wissenschaftlers, eine Anspielung auf den von den Amerikanern in Deutschland geschnappten Raketeningenieur Wernher von Braun. Dr. Strangelove hat einen »bionischen« Arm, der nicht immer das tut, was sein Besitzer will, und sich schon mal von selbst zum Hitlergruß erhebt. Er spricht mit einem deutschen Akzent, wirkt in der Verkörperung von Peter Sellers (der wie in Lolita gleich drei Rollen spielt, neben der Titelfigur den amerikanischen Präsidenten und Captain Mandrake) satanisch und schlägt vor, dass sich die Überlebenden in Bergwerken verstecken sollten, mit Gewächshäusern, Vieh und fruchtbaren Frauen. In dieser zentralen Figur schwingen, wie in jeder guten Satire, polemische Töne mit.

»Dr. Strangelove«, ohne den heute berühmtere Militärsatiren wie »Catch 22« oder »M*A*S*H«, aber auch Kubricks eigener »Full Metal Jacket« nicht denkbar wären, endet tragisch: mit der Detonation der Bombe. Die Aufnahmen von Atompilzen, diese merkwürdig schönen Bilder der Zerstörung, unterlegt Kubrick mit einem Song aus dem Zweiten Weltkrieg, »We'll Meet Again«: »We'll meet again/Don't know where/Don't know when/ But I know we'll meet again/some sunny day/Keep smiling through/Just like you always do/'Til the blue sky drive the dark clouds away.« Das kann man gar nicht witzig finden. Aber ein befreiendes Lachen gibt es in keinem Film von Stanley Kubrick.

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