Anime: Auf nach Neo Yokio

Japanische Trickserien auf dem Weg in den Mainstream
»Castlevania« (Serie, 2017) © Netflix

»Castlevania« (Serie, 2017) © Netflix

Eine Marke ist durchgesetzt, wenn sie kopiert wird... So gesehen hat Anime gesiegt. Immer mehr internationale Produktionen machen sich den japanischen Trickfilmstil zu eigen – befeuert von Streamingdiensten wie Netflix

Auf den ersten Blick sieht es aus wie eine dieser Action-Animeserien für Teens: Vier großäugige Mädchen in knappen Kostümen prügeln sich durch eine halb futuristische, halb märchenhafte Welt voller Dämonen; es regnet Rosenblätter, Eiskristalle wachsen in den Himmel, Körper fliegen durch die Luft. Aber irgendwas stimmt hier nicht. Jedenfalls hört es sich nicht wie Anime an. Die Fighting Girls sprechen breites, leichtverständliches Englisch – für japanisches Publikum musste die Serie synchronisiert werden. »RWBY« ist eine Produktion der Firma Rooster Teeth mit Sitz in Austin, Texas, der Heimat von Indie-Regisseuren wie Richard Linklater und Robert Rodriguez. Sie basiert nicht auf einem Manga, sondern startete als originale Webserie in Mini-Episoden auf YouTube. Die Macher kommen aus der Machinima-Szene, die seit den Neunzigern Computerspiele zu Filmen umschmiedet, indem sie die Games-Software selbst zweckentfremdet – das erste Erfolgsprojekt von Rooster Teeth beruhte auf dem Shooter »Halo«. Auch »RWBY« ist komplett im Computer entstanden und sah anfangs roh und ungelenk aus – das Team um den 2015 verstorbenen Monty Oum war nicht sicher, ob es dafür Publikum geben würde. Heute ist die Serie ein Hit – sieben Staffeln, mit einer Menge Merch im Gepäck –, kann aber immer noch umsonst bei Rooster Teeth gestreamt werden. Und sie ist ein Beispiel dafür, wie die Subkultur Anime allmählich über sich hinauswächst.

Genaugenommen müsste man »RWBY« als anime-nahen Cartoon – englisch auch für Zeichentrickfilm – einsortieren. Der Begriff Anime war bisher reserviert für Trickfilmproduktionen aus Japan. Und für Fans wird er immer mit speziellen kulturellen Konnotationen verbunden sein – sie schätzen an den japanischen Filmen und Serien die etwas andere Art, die Welt zu sehen. Ein »amerikanisches Anime« ist ein Widerspruch in sich. Aber Animes und US-Cartoons standen schon früher in einer untergründigen Beziehung, und besonders der Anime-Boom der neunziger und frühen nuller Jahre, als »Dragon Ball«, »Naruto« und »Pokémon« bei uns anlandeten, brachte im amerikanischen Fernsehen regelrechte Lookalikes hervor: »Avatar: The Last Airbender«, »Teen Titans«, die Ninja-Turtles. Die meisten Zuschauer dürften sich damals kaum dafür interessiert haben, ob die nun japanisch oder US-produziert waren. Inzwischen aber läuft die Debatte über kulturelle Appropriation auf hohen Touren, wird der Hang der westlichen Kulturindustrie, an sich zu raffen, was nicht festgekettet ist, mit Misstrauen betrachtet. Und während die alte Linie der Fernseh-Kopien mit Shows wie »Voltron« weiterläuft, scheint die digitale Entwicklung, das Streaming, den Trend zur Internationalisierung von Anime erst recht zu befeuern. Die Mitte der nuller Jahre gegründete amerikanische On-Demand-Plattform »Crunchyroll«, noch immer die erste Adresse für Fans in aller Welt, sitzt heute in japanischen Produktionskomitees, hat mehr als 60 Serien koproduziert und ein eigenes Studio mit Produk­tionsstätten in Burbank und Tokio gegründet – rund zehn »Originals« wurden jüngst auf den Weg gebracht. Zudem drängen mit Netflix und Amazon Gemischtwarenhändler in den Markt, die weniger an der Besonderheit von Anime interessiert sind als an der Bindung von Fangruppen, deren Bereitschaft zum emotionalen – und finanziellen – Investment legendär ist.

Anime ist ein Milliardengeschäft; in Japan werden pro Quartal 30 bis 50 Serienstaffeln produziert. Aber es ist immer noch eine Herausforderung für Lizenznehmer aus dem Westen, wie Daniel Otto, Manager des europäischen Manga- und Animevertriebs AV Visionen, inzwischen eine Crunchyroll-Tochter, kürzlich im Interview mit dem Branchenmagazin »Blickpunkt:Film« bestätigte: ein »komplexes Geflecht aus Beteiligten mit unterschiedlicher Interessenlage: Manche sind Intellectual-Property-Holder und legen Wert auf die Veröffentlichung des dem Anime zugrunde liegenden Manga, andere möchten den Verkauf ihres Merchandise fördern, Dritte können reine Finanzinvestoren sein«. Dazu kommt, dass »gegenüber Asien der Rest der Welt aus der Perspektive der Anime-Produzenten von nachgelagerter Bedeutung« ist und die asiatische Kundschaft andere Vorlieben und Kaufgewohnheiten hat.

Netflix hat in den letzten Jahren einigermaßen wahllos in Anime-Lizenzen und -produktionen investiert. Klassiker wie die Studio-Ghibli-Titel, »Rurouni Kenshin« oder »Full Metal Alchemist: Brotherhood«, neuere Mega-Hits wie »Sword Art Online« und »Attack on Titan« dümpeln nahezu unbeworben auf dem Portal herum – selbst der Algorithmus kapiert nicht, dass es Leute gibt, die hier nicht wegen »Haus des Geldes« unterwegs sind. Als Anfang letzten Jahres die Nachricht kam, Netflix habe sich die Streamingrechte an Hideako Annis »Neon Genesis Evangelion« gesichert, war das ungefähr so, als würde man die Mona Lisa in der Allianz-Arena ausstellen: feindliche Übernahme! »NGE« ist das Wahrzeichen der seriellen Anime-Kunst, eine melancholische Endzeitgeschichte im Mecha-Look, reich an philosophischen, theologischen und sozialpsychologischen Bezügen – und seit Jahrzehnten für die internationale Gemeinde praktisch unsichtbar. Anders als für die Masse der Serien hat Netflix für »NGE« getrommelt. Denn es ging bei diesem Coup ums Image, wie der Anime-Blogger Answerman seinerzeit meinte: Netflix soll als »Anime-Destination« erscheinen.

Das Unternehmen hat auch eine Originals-Abteilung aufgebaut: in diesem Fall Titel, die weltweit exklusiv auf Netflix laufen, aber nicht unbedingt Netflix-produziert sind. Sozusagen der Testballon als rein hausgemachte Serie ist »Castlevania«, die Adaption eines ehrwürdigen Computerspiels von Konami. Hinter der Vampirshow stecken der Produzent Adi Shankar, der uns das bildstarke, extrem gewalttätige »Dredd«-Remake geschenkt hat, und der umtriebige Comic-Autor Warren Ellis (der auch bei Crunchyroll mitmischt). »Castlevania« ist also ein Cartoon, profitiert aber erheblich vom Fernost-Touch. Grafisch erinnert die Serie an die Spielvorlage oder auch Animes aus den Neunzigern, vor allem in der Art, wie die hübschen, langbewimperten Jungs in den Nebenparts – klassische japanische »Bishonen« – ins Bild gesetzt sind. Der Handlungsverlauf – Dracula töten, ein fieses Kirchen-Establishment entmachten – ist eher linear, mit viel pompösem Dialog, der von prominenten englischen Schauspielern wie Richard Armitage (aus dem »Hobbit«) oder Bill Nighy vorgetragen wird. Und mancher Metzel-Moment lässt an »Game of Thrones« denken. Gerade ist die dritte Staffel in einem explosiven Mehrfronten-Krieg ausgelaufen, die vierte ist unvermeidlich – das Ganze hat eingeschlagen, auch bei Frauen, denen hier viel Anime-Fanservice geboten wird.

Anime zu lieben, ist heute nicht mehr peinlich: Prominente wie Elon Musk, Kan­ye West, Ariana, Keanu Reeves, Samuel Jackson und Christoph Waltz haben sich geoutet. Ezra Koenig, der Frontmann der hippen Ostküsten-Band Vampire Weekend, hat sogar selbst eine Serie geschrieben, mit Jaden Smith, Jude Law und Susan Sarandon als voice actors. »Neo Yokio« ist, wie der Titel andeutet, in einem leicht verfremdeten New York angesiedelt und verlässt sich darauf, dass der Zuschauer wenigstens ab und zu mal zu einem Hochglanzmagazin wie »Harper's Bazaar« gegriffen hat: Die Geschichte spielt in weiten Teilen in einem modisch und ­kulturell potenten Upper-Class-Milieu. Auch wenn der blasierte junge Held unter den WASPS etwas exotisch wirkt: als ­Nachfahre einer europäisch-jüdischen Immigrantenschicht, die Neo Yokio mit ererbten magischen Kräften vor – Überraschung! – Dämonen schützt. Irgendwann dreht sich Koenigs Plot nach links, wie man es von einem Unterstützer des Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders erwarten darf. Und wenn sich die Serie eher unter »Lifestyle« als »Kunst« verbuchen lässt, ist sie doch ein Plädoyer für die Hybridisierung, die Vermischung der Kulturen.

Ohne die würden wir heute noch mit Knochen auf Tierfellen trommeln. Gerade Anime, das sich schon immer aus dem Mythenfundus Europas und der USA bediente, ist ein vitaler Beleg für die Schönheit kultureller Grenzgänge. Auch Korea hat eine Comicszene, China produziert Animes, und es ist eine Frage der Zeit, meint Gigguk, ein populärer »Ani-Fluencer« auf YouTube, bis aus dem Reich eine Hitserie kommt. Gigguk hat bereits vor zwei Jahren den Trend zur Internationalisierung beschrieben und gemeint, wenn die nationale Etikettierung – made in Japan – entfalle, werde Anime so etwas wie eine »Bewegung, ein Konzept, eine Marke«. Dass Anime als eigenständige Kunstform im Netflix-Rausch untergeht, ist fürs Erste jedoch nicht zu fürchten. Die Spezialanbieter gehen im Übrigen schon andere Wege und bringen die Fans bei eventhaften Simulcasts und Kinostarts (momentan online, etwa bei Kazé) zusammen. Das passt, denn Anime hat einen Zug ins Kollektive. Muss so ein kulturelles Ding sein.

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